Author: katja

  • Erster Versuch Saudi-Arabien

    Erster Versuch Saudi-Arabien

    Das schnelle Ende und der unvollendete Anfang 2020

    Ein Jahr musste vergehen. Ich dachte, ich würde so schnell wie möglich einfach da weiter machen wo ich aufgehört hatte in der Wüstenstadt Riyadh, bei meiner ersten Entdeckungsreise in Saudi-Arabien. Es war mein Deal mit mir – zu gehen, um wieder zu kommen. Nun ja. Es bleibt auch noch nach einem Jahr ungewiss. Das schmerzt und deswegen schreibe ich jetzt nieder, was mich so bewegt hat in dieser kurzen Zeit. Ein Land, völlig unbefleckt, weil so befleckt. Ich wollte mir unbedingt mein eigenes Bild machen und mit Menschen ins Gespräch kommen, von denen man nie hört außerhalb der arabischen Welt.

    Freedom of thinking

    Freedom of speech ist also ideenlose Vordergründigkeit, die auf die Strukturen im Westen zugeschneidert ist. Die erste Frage aller Journalist*innen aus dem Westen und dabei so dumm, da sie alle anderen ausschließt oder gering bewertet. Freedom of speech sei eine vermeintliche Freiheit, da sie nichts dahinter verlangt. Freedom of thinking hingegen ist smart. Sie erhält die Würde und gibt Gestaltungsfreiheit bei der Wahl der Methoden und Zugänge, ohne dabei in totalitären Regimen das eigene Leben zu riskieren. Sie erfordert das intellektuelle und emotionale Durchdringen eines Themas und ein hohes Maß an Kreativität für ungewöhnliche Lösungen. Zu intelligent für die Zensur und gleichzeitig Standpunkte und Botschaften vermittelnd. Die Spielwiese und das Spezialgebiet des saudischen Künstler*innenkollektivs rund um Abdulnasser. And smart he is!

    freie Zusammenfassung nach Abdulnasser Gharem

    Ich ließ seine Sätze sickern. Er saß umrahmt von Bücherwänden mit wichtigen philosophischen Titeln und Schriften von Intellektuellen der ganzen Welt. Kunst braucht philosophische Auseinandersetzung und einen Überbau! Ich lächelte, der ehemalige Oberstleutnant der saudischen Armee war in seinem Vortrag sehr überzeugend und ich seine einzige Zuhörerin. Mein Blick schweifte im Raum herum. Die anderen Anwesenden waren Künstler*innen und Teil des Kollektivs. Für sie war das nichts Neues und nicht alle von ihnen sprachen englisch. Sie arbeiteten an einem Mosaik im Auftrag von Abdulnasser. Meine erste intellektuelle Diskussion in Saudi-Arabien und ich war beflügelt. Gleichzeitig war ich innerlich aufgelöst, da ich so glücklich war, dass sich mein Atelierbesuch gerade noch ausgegangen ist, bevor ich ein paar Stunden später zum Flughafen fahren musste. Die letzte Maschine aus Riyadh Richtung Europa. Wenn alles gut ging, könnte ich über Istanbul nach Wien fliegen. Ich hatte ein online Ticket aber ohne Bestätigung. Das war mir in dieser Minute völlig gleichgültig.

    Die letzten Stunden

    Ich wollte nicht weg aus Saudi-Arabien. So lange hatte ich gewartet, bis ich in dieses Land offiziell als Individualtouristin einreisen durfte, und jetzt Pandemie. Ladenschluß. Das dritte Mal auf meiner Reise, nach der unvollendeten Revolution im Libanon und der Staatstrauer um Sultan Qaboos im Oman. Ich war wütend und konnte mich doch nicht dem wohlmeinenden Druck von Freund*innen und letztlich dem Anruf der Botschaft entziehen. Abbruch.

    Ich machte keine Photos, ich wollte ganz präsent sein, zuhören und schauen. Sehen was passiert, was sich eröffnet. Wael, ein junger Künstler, der gerade in Dubai ein Projekt eingereicht hatte, führte mich durch die Zimmer. Seine Übertragung der Popart, Comics aus Amerika, Europa und Japan übersetzt auf heutige arabische Verhältnisse und doch auch wieder nicht arabisch. Global Smart. Dann war klar, dass ich gehen musste. Ich war schon viel zu lange da und was wollte diese Europäerin eigentlich, die nicht einmal Künstlerin war geschweige denn Philosophin, aber mit der man über so vieles reden konnte? Ich hatte einfach eine Email geschrieben, dass ich vorbeikommen und sie kennen lernen wollte. Ich hatte in einem Magazine in Dubai‘s Alserkal Art District von ihnen gelesen und war sofort fasziniert. Wie schafft es ein saudischer Künstler unter den bestehenden restriktiven Bedingungen, provokante Botschaften künstlerisch so eindrucksvoll umzusetzen? Ihn wollte ich kennen lernen und da war ich. Und wollte nicht weg.

    Ich war mir nicht sicher, ob ich Einlass finden würde, da ich Instruktionen nur per Social Media erhalten hatte und in der Straße nichts auf ein Künstlerstudio hindeutete. Erst durch einen Anruf konnte ich den völlig unscheinbaren Eingang finden und landete in einem Vorgarten, der nichts verriet und eher an einen Ablageplatz einer Werkstatt erinnerte. Vielleicht gibt es diese Adresse schon nicht mehr, denn bei meinem Besuch war bereits unklar, ob sie bleiben konnten.

    Ich verabschiedete mich und Wael umarmte mich sehr herzlich. Das war neu für mich, auf der arabischen Halbinsel kommt das selten vor bei Männern noch dazu in Zeiten von Corona. Aber er war sehr jung, eine neue Generation, erfrischend offen und unabhängig im Geist. Wenig später versuchte ich dem Taxifahrer klar zu machen, dass wir schnell sein mussten, was in Riyadh ein Ding der Unmöglichkeit ist. Aber ich musste noch meine Sachen von acht Monaten packen und rechtzeitig am Flughafen sein. Es gab keinen nächsten Flug, am Morgen würde der Flughafen geschlossen werden.

    Es war bereits dunkel, Hitaf war nicht zu Hause. Sie hatte noch Dienst im Krankenhaus. Emergency Unit. Ich hinterließ ihr einen Brief, denn ich musste einen Teil meiner Sachen zurücklassen. Ich musste froh sein, wenn ich in den Flieger durfte, Übergepäck kam nicht in Frage. Kurz danach saß ich wieder im Taxi. Es war eine lange Fahrt und ich nutzte die Zeit, um all jenen Menschen zu schreiben, die sich bereit gezeigt hatten mich zu treffen und eventuell sogar ein Interview zu geben. I will be back, es war mir klar, dass ich zurückkommen musste, um den Faden wieder aufzugreifen. Dort, wo ich ihn jetzt durchgeschnitten hatte.

    Welcome to Riyadh

    Dabei hatte alles so großartig begonnen. Niemals hätte ich mir gedacht, dass ich in meiner ersten Woche in Riyadh so viele beeindruckende Menschen, vor allem junge und Frauen kennen lernen würde. Ich war viel herum gekommen im Nahen Osten, trotzdem hatte ich keine Vorstellung, wie es sich wirklich anfühlt in Saudi-Arabien. Und selbst diejenigen, die zuvor dort gelebt hatten, kannten nur die Realität der Ghettos für die Ausländer*innen ohne Bewegungsfreiheit mit der Geschlechtertrennung und der allgegenwärtigen Sittenpolizei. Und das war jetzt alles Geschichte. Ich konnte alleine durch die Straßen flanieren und mich in ein Kaffeehaus setzen, ohne darauf achten zu müssen, den Fraueneingang zu nehmen, denn den gab es nur mehr als Relikt. Und all das innerhalb von wenigen Jahren. Ausradiert.

    Alles schien besser, unvergleichlich besser für die jüngere Generation, die ja das Davor, also die Zeit vor der Besetzung der Großen Moschee von Mekka 1979 und dem radikalen Schwenk nicht erlebt hatte. Alles, außer die Meinungsfreiheit oder präziser gesagt, freedom of speech. Es geht um Macht und Geld, so wie überall anders auch, aber die Mittel sind beängstigend und brachial. Am Tag, an dem ich gemeinsam mit 150 Fremd-Arbeiter*innen aus dem Oman kommend einreiste, platzte eine der vielen politischen Bomben. Nächste Angehörige und sehr mächtige Vertreter*innen des Königshauses wurden verhaftet. Ich hatte Sorge, dass es gröbere öffentliche Interferenzen geben könnte, nicht aber so in Saudi-Arabien.

    Ankunft mit Freunden

    Bei der Einreise war ich inmitten all der Arbeiter die einzige Frau und Touristin. Wie ich später erfuhr, ist es üblich, dass einige von ihnen Drogen schmuggeln, indem sie die Päckchen schlucken. Deshalb ließen sie uns nach den Wärmetests lange in der Schlange warten. Sie beobachteten, ob eine*r von uns Auffälligkeiten zeigte. Ein Mann war schon im Flieger nicht mehr ganz bei Sinnen, er taumelte und lallte. Ich war wütend, da er beim Einsteigen fast über mich fiel und ich forderte die umstehenden Kollegen auf, sich um ihn zu kümmern. Aber keiner von ihnen half ihm, sie wollten mit ihm nichts zu tun haben. Er war eine Gefahr für die Anderen. Danach hatte ich ihn aus den Augen verloren.

    Eine sehr nette und geduldige Einreisebeamte ließ sich von mir auf arabisch meine Passdetails erläutern. Ich stammelte, da ich soviele Aufenthalte und speziell die im Iran und in China rechtfertigen musste. Aufgrund der Pandemie waren die beiden Herkunftsländer verboten. Sie war sehr nett und honorierte meine Bemühungen. Ich war schweißgebadet, sie war mein erster Kontakt mit den saudischen Behörden. Als Alleinreisende hatte ich mich davor natürlich eingelesen und die Berichte über die Feministinnen und Widerstandskämpferinnen im Gefängnis hatten meine Phantasie beflügelt. Schließlich kann man meine Positionierung sehr leicht öffentlich im Internet nachlesen. Aber im Gegensatz zu den israelischen Einreisebehörden, die umfassende Kenntnis über mich hatten, schien ich sie nicht weiter zu interessieren. Schließlich war ich eine der ersten Touristinnen und die sind für einen zukünftigen Wirtschaftsumschwung gefragt.

    Fortsetzung folgt!

  • Mein Jetzt Viertel

    Mein Jetzt Viertel

    Lokalisierung – über die Grenzen meines Viertels

    Mein Viertel macht wahrscheinlich nicht einmal ein Achtel meines Bezirks aus, ist aber größer als mein Grätzl. Es finden sich die unterschiedlichsten, die Phantasie anregenden Namen wie zum Beispiel das Fasanviertel, das Rochusviertel oder das Weißgerberviertel und viele mehr, die von der Innenstadt bis nach Simmering reichen. Die vielen Viertel in diesem großen Bezirk sehen sehr unterschiedlich aus und spannen einen politischen und gesellschaftlichen Bogen von der gehobenen Klasse in den Botschaftsvierteln bis zu den Arbeitervierteln auf. Mein Viertel hat keinen Namen, weil ich die Grenzen abgesteckt habe. Es enthält die wichtigsten Stationen für meinen Alltag und mein Wohlfühlen. Es ist nur für mich entstanden und so zu meinem Viertel geworden.

    Ich mag mein Viertel, weil es ein wenig abgelegen ist und nicht eindeutig irgendwo dazu gehört. Zwischen dem vielbefahrenen Donaukanal bis zur Landstraße und noch weiter bis zur Ungargasse. Unweit vom Hundertwasserhaus, das derzeit, erstmals seit ich hierhergezogen bin, nicht von Tourist*innen und Photograph*innen belagert wird. Ich mag besonders gerne die große Kirche mit dem Platz davor und die Verlängerung durch das Viadukt zum Radetzkyplatz. Dieser Bereich hat etwas Heimeliges, er lädt zum Verweilen ein; auf einer der Bänke vor der Kirche beim Brunnen oder in einem der Cafes. Menschen, die hierherkommen, kommen gezielt. Es gibt kaum Durchzugsverkehr und viele Wiener*innen sind noch nie in diesem Eck gelandet. Sonst müssen sich Menschen verirren, um den Weg hierherzufinden.

    Mit dem Donaukanal, an dessen Ufer man entlang spazieren kann, ist das Wasser in Wien in mein Leben getreten. Ich liebe es, flußabwärts zu gehen und mitzuschwimmen ohne einzutauchen. So beginne ich auch zu fließen und lasse mich treiben. Das Viertel erscheint dann auf einmal grenzenlos, es erstreckt sich nach Niederösterreich, Bratislava und den Balkan bis zum Schwarzen Meer. Erst außerhalb meines Viertels mündet der Kanal in den Donaustrom und erhält durch die Vereinigung den Hauch der großen Welt. Ganz im Gegensatz zu meinem Viertel, das einen lokalen Charakter hat, sobald man dem Zentrum Wien Mitte den Rücken kehrt.

    Was blieb – historische Spuren und Treffer mitten ins Herz

    Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, hätten nicht sowohl Mozart W.A. als auch Beethoven L.v. zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Schaffens auch im dritten Bezirk residiert. Letzterer erst 18 Jahre nach Ersterem, sie sind sich also in meinem Viertel nie begegnet. Für beide war der Aufenthalt im dritten Bezirk eine Durchgangsstation in ihrem abwechslungsreichen Künstlerleben, nur Mozart kehrte nach seinem Tod zurück und weilt nun auf ewig in St. Marx.

    Anders hingegen bei Ingeborg Bachmann. Zu der Zeit, als ich begann, Ingeborg Bachmann’s Bücher zu lesen, kannte ich Wien kaum geschweige denn mein Viertel. Damals las ich von ihrer Wohnung in der Ungargasse, der Straßenbahn, mit der sie nach Hause fuhr und ihren Spaziergängen im Viertel. Meine inneren Bilder von dieser Gegend entstammten also vorwiegend einem Prosawerk einer berühmten und von mir verehrten Autorin. In meinem Kopf waren sowohl das Haus als auch die gesamte Ungargasse grau und wenig reizvoll. Auf eine unbeschreibliche Weise geheimnisvoll, verlor ich mich in ihrem Ungargassenland. In der gleichen Straße also, in der Beethoven seine 9. Sinfonie vollendete, verortete Ingeborg Bachmann ihren Roman, in dem sie Ivan, Malina und die Ich-Erzählerin ansiedelte. Da, wo sich in monarchischen Zeiten die Gast- und Raststätten für die Reisenden aus Ungarn niederließen, verbrachte eine junge Frau aus Klagenfurt die Nachkriegsjahre und brannte ihre Erinnerungen später in ihre Werke ein. Als ich das erste Mal, nachdem ich schon lange in Wien gewohnt hatte, einen Ausflug in die Ungargasse unternahm, wähnte ich mich also gedanklich auf den Spuren großer Menschen. Damals, in den 1990er Jahren, fand ich weder Ungarn noch eine Vielzahl an Gaststätten, die an die Reisenden erinnern könnten, aber ich fand das Grau und es fühlte sich an, als wandle ich in den billigen Schuhen einer jungen Frau der Nachkriegszeit und ich zog meinen Mantel noch enger, so wie die Ich-Erzählerin in Malina.

    Nur wenige Jahre später, nämlich 1995, saß ich weit weg in Nordengland in einem großen Kinosaal und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Das zweite Mal innerhalb eines Jahres verspürte ich so etwas wie Heimweh, als ich Celine und Jesse über die schmale Brücke den Donaukanal in den dritten Bezirk queren sah. Natürlich „before sunrise“, denn danach waren sie vereint und mussten sich doch trennen. Das geschah zuvor erst einmal als ich, um meinen Mitbewohner zu ärgern, nach 8 Stunden Cricketmatch im Fernsehen auf irgendeinen Kanal umschaltete, und plötzlich Rex seine unbarmherzig treuherzigen Augen auf mich richtete, während sein Kommissar kluge Sprüche mit britischem Akzent von sich gab. Das war ein einmaliger Treffer mitten ins Herz einer begeisterten Auslandsstudentin. Celine und Jesse hingegen begleitete ich über all die Jahre durch all ihre Episoden, obwohl sie meinem Viertel inzwischen Paris und eine griechische Insel vorzogen. Es bleibt abzuwarten, ob Richard Linklater die beiden nach Jahren der Irrungen wieder nach Wien und in mein Viertel führt. So wie Kath Bloom in ihrem wunderschönen Titelsong “Come here” singt: “ … it‘s gonna be allright this time”. Eines Tages, wir werden sehen. Sie müssen ja nicht gleich hier begraben werden, auch wenn (die Musikgruppe) Wanda singend prophezeien: „sterben wirst du leider in Wien“ und es sich neben Mozart sicher gut bettet.

    Aber jetzt – mein Viertel ist mein Jetzt

    Ich bin erst vor fünf Jahren hierhergezogen und verband damals keine persönlichen Erinnerungen mit diesem Teil der Stadt. Nichts Aufregendes findet sich hier, sondern urbane Normalität. Das ist einer der Gründe, warum ich mein Jetzt-Viertel liebe. Es ist down-to-earth und lebensnah wienerisch durchmischt. Die Heterogenität der Wiener Bevölkerung findet sich wieder und ich weiß an jeder Ecke, dass ich in Wien bin. Mein Viertel ist mein Jetzt, denn es bildet nur die letzten fünf Jahre meines Lebens ab und markiert einen Neuanfang in meinem Leben. Es ist noch mehr „jetzt“, da ich die letzten fünf Jahre sehr wenig Zeit in diesem Land, dieser Stadt, meinem Viertel verbracht habe. Unabhängig davon, wie kurz oder lang, weit weg oder doch sehr nah ich war, ich kam immer gerne zurück. Es gibt für mich nicht wirklich einen Ort der Heimat als physische Repräsentanz mit genauen Koordinaten. Ich finde Heimat an vielen Plätzen, die Wärme ausstrahlen und an denen ich Verbindungen herstellen kann.

    Verbindungen zu den Menschen, die ich dort antreffe, Verbindung zu der Natur, die mich umgibt, und vor allem Verbindung zu mir selbst. Mein Viertel ist einer dieser Plätze. Wo auch immer ich gerade bin, denke ich mit einem wohligen Gefühl an die Straßen, den Platz vor der Kirche, an dessen Ecke das Haus und hoch oben meine Wohnung. Ein Gefühl der Sicherheit und Wärme durchströmt mich, hier kann ich ruhen. Ein Ort, um Kraft zu tanken und dann wieder loszuziehen in die weite weitere Welt.

    Mein Viertel ist mein Jetzt, denn noch nie zuvor habe ich so viel Zeit hier verbracht. Aufgrund von Covid-19 musste ich meine Reise abbrechen und früher als geplant zurückkehren. Das unfreiwillige Element hat mich die ersten Tage erstmals nicht einfügen lassen. Ein lock-down Empfang ist kein Willkommen und erschwert das Ankommen. Das Eingesperrtsein in meine Wohnung und mein Viertel hat unserer Beziehung zunächst nicht gutgetan. Zwang ist kein guter Mediator. Bald hat sich bei mir aber das Gefühl der Sicherheit eingestellt. Mein Viertel hat mich nach ein paar Tagen der Orientierungslosigkeit wie eine Wabe umgeben. Ich habe mich wochenlang nur in der Schutzhülle meines Viertels aufgehalten und tunlichst vermieden, dessen Grenzen zu überschreiten. Dabei habe ich es neu für mich entdeckt.

    Ich habe einen neuen Blick entwickelt, der Details aufnimmt, die ich zuvor nicht wahrgenommen habe. Seien es Gassen, in denen ich zuvor nie gegangen bin, architektonische Details an Häusern oder Bäume und Pflanzen, die mir zuvor nie aufgefallen waren. Besonders erfreut haben mich Klänge und Geräusche, die in der allgemeinen Stille auf einmal hörbar wurden. Es waren vorwiegend Vogelgeräusche unterschiedlichster Natur, denen ich nachgehört habe und die so schön waren, dass ich mich bemühte, sie zu differenzieren. Auch die Luft schien anders und klarer und ich nahm erstmals bewusst den Geruch meines Viertels wahr. Diese neuen Intensitäten und das Erfahren mit allen meinen Sinnen haben die Beziehung zu meinem Viertel gestärkt und auf eine neue Ebene gehoben. Ich habe erfahren, dass ich hier sicher bin. Gut aufgehoben. Das bleibt.

    Salam Kalam und Salam Orient

    Ich habe diesen Text im Rahmen der Schreibwerkstatt Salam Kalam verfaßt. Für unsere Arbeiten haben wir Inspirationen von SchriftstellerInnen der Seidenstraße aufgenommen; unter anderen auch von Rafik Shami’s Text über sein Viertel in Damaskus aus “Eine Hand voller Sterne”. Das Salam Orient Festival gibt uns nach einem intensiven Sommer Kreativen Schreibens unter der Leitung von Helga Neumayer nun die Möglichkeit, Auszüge unserer Texte im Rahmen von zwei Lesungen vorzustellen.

    Die zweite Lesung des Salam Orient Festivals findet am 13.10.2020 mit den AutorInnen Hamed Abboud, Sarita Jenamani, Aftab Hussein, Traude Pillai und den TeilnehmerInnen des Schreibzirkels statt. Live Musik gibt es von Sarvin Hazin (Kamanche) & friends.

    Die HerausgeberInnen Sarita Jenamani und Dr Aftab Husain haben Texte unseres Schreibzirkels in ihrem digitalen Magazin Words and Worlds veröffentlicht. Words and Worlds ist eine bilinguale Zeitschrift für MigrantInnenliteratur. Salam Kalam ist darin eine kleine Sonderausgabe.

  • Es bleibt nur Wut

    Es bleibt nur Wut

    Gegen die Verachtung

    Täglich hören wir von grausamen Vorfällen irgendwo auf der Welt und sogar wenn wir nicht davon hören wissen wir, dass es sie gibt. Die Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen und damit mitten in Beirut, ist nicht die erste Katastrophe, die den Libanon, Beirut und seine Menschen trifft. Katastrophen kommen oft von außen, sie haben einen schicksalhaften Charakter. Die Libanesen haben aufgrund der Geschichte des Landes und seiner kollektiven Entwicklung nach dem Bürgerkrieg gelernt, damit und auch mit den selbst induzierten Krisen umzugehen. Auf verschiedene Weise profitierten am Ende (zu) viele von einem Nichtangriffspakt.

    Kollektiver Widerstand

    Die junge Generation hat diese Situation erstmals aufgebrochen. Im Herbst 2019 hat die Mehrheit der Libanes*innen vereint NEIN gesagt. Es ging darum, nicht mehr hinzunehmen, dass nichts zu ändern ist an einer unerträglichen Situation, die zum Vorteil weniger und zum Nachteil der Vielen gereicht. Die vielen Menschen auf der Straße wollten ein von den bestehenden Eliten unabhängiges politisches System, ein nicht korrumpierbares demokratisches Vertretungsprinzip, das für alle gleiche Chancen vorsieht. Ich war von der Grassroots Bewegung, der Klarheit ihrer Forderungen und ihrem Gestaltungswillen sehr beeindruckt. Selbst physischen Angriffen von Schlägertrupps hat sich die unbewaffnete Zivilbevölkerung mutig entgegengestellt. Immer und immer wieder. Ein aus dieser Perspektive fauler Kompromiss sollte die internationalen Geldgeber und die libanesischen Eliten befriedigen. Und jetzt das.

    Ignoranz wird zur Verachtung

    Die Explosion von 2750 Tonnen hochexplosivem Material, von dem jeder in der Regierung und beim Militär wissen musste und niemand etwas unternommen hat, ist der vorläufige Höhepunkt. Es braucht nur Hausverstand, um standardgemäße Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und das Material entsprechend außerhalb von Wohngebieten zu lagern. Es ist genau diese Form der Vernachlässigung, des fehlenden Respekts gegenüber Menschen und jedem Lebewesen in diesem Land, die mich immer wieder dazu veranlasst hat, nach einiger Zeit das Land zu verlassen; da ich die Ignoranz, mit der Menschen alltäglich Leid zugefügt wird – durch gravierende Umweltverschmutzung und Vorenthaltung von menschenwürdigen Lebensbedingungen und Versorgung mit dem Nötigsten – nur schwer ertragen konnte. Dabei ging es nicht darum, dass der Libanon so wenige Ressourcen hat, dass es nicht leistbar wäre, menschenwürdige Zustände herzustellen, denn es gibt Eliten. Die wenigen, die unvorstellbar reich sind, das offen zur Schau tragen und ihr Geld dafür einsetzen, dass sich nichts ändert.

    Diese Explosion ist nur die Spitze einer langen Kette von verachtendem und herabwürdigendem Umgang zwischen einer politischen Kaste und der Bevölkerung vor pseudodemokratischen Strukturen, die nur dafür ausreichten, ausländische Regierungen zum Nichtstun zu beruhigen.

    Letzte Chance

    Die Reaktion der Menschen kann daher nur unfassbare Wut sein und diese Wut ist nicht nur verständlich, sondern auch angebracht. Jetzt muss geholfen werden, die Schäden dieser Katastrophe so gering wie möglich zu halten, aber danach kommt erst die große Aufgabe: den Libanesinnen und Libanesen, die noch die Kraft haben, die Chance zu geben, dass sie selbst Verantwortung für ein besseres Leben übernehmen dürfen und nicht als Spielball der Mächtigen erneut an die Wand geschlagen werden.

    Meinen Freundinnen und Freunden gewidmet – Wir sind Libanon

    In der letzten Zeit bin ich immer mehr zu der Erkenntnis gelangt, dass dieser fehlende Respekt und meine Verzweiflung, dass meine Freund*innen das ertragen müssen, in gleicher Weise uns hier in Europa betreffen. Im Libanon war es zu offensichtlich, aber inzwischen kommen auch hier immer mehr Praktiken an das Tageslicht, die dieselbe Form von Verachtung und Herabwürdigung menschlichen Geistes und Lebens beinhalten. Wir sind alle im gleichen Boot, die Klimakrise ist ein anschauliches Beispiel dafür. Eines von vielen. Meine Freunde im Libanon unterscheiden sich in ihren Träumen, Wünschen und Potentialen nicht von uns. Wir kämpfen alle den gleichen Kampf für mehr Menschenwürde und Chancengleichheit.

    Ausflug in den Hafen

    *Das Photo entstand bei meinem ersten und letzten Besuch des Hafens von Beirut im Oktober 2019. Ich liebe Häfen und wollte immer schon einmal den Hafen in Beirut näher inspizieren. Man sieht ihn von überall in der Stadt, vor allem die großen Silos, die aus jedem Photo von Beirut herausragen. Kein Passagierhafen, sondern industriell genutzt. Da er hinter einer Autobahn liegt, ist er schwer zugänglich. Ich hatte immer den Eindruck, dass es nicht erwünscht ist, sich vor Ort anzusehen, wie heruntergekommen dieses Areal bei näherem Hinschauen ist und in welch erbärmlichen Behausungen die Hafenarbeiter leben. Damals hatte ich natürlich keine Ahnung davon, was in den Silos gelagert wird. Man sagte mir, es seien Getreidespeicher.

    Ich überquerte die Autobahn über die Fußgängerbrücke und war als Einzige zu Fuß unterwegs. Eine sichtbar vernachlässigte ärmliche Gegend und durch männliche Fremdarbeiter dominiert, die sehr irritiert waren, dass da auf einmal eine Frau entlang spaziert. Da es vergleichbar Heruntergekommenes an mehreren Stellen in Beirut und im Libanon gibt, habe ich mich nicht abhalten lassen und die abgehalfterten Securities nahmen auch nicht weiter Notiz von mir. Also ging ich immer weiter, schließlich wollte ich das geschäftige Treiben eines Industriehafens sehen, welches ich allerdings nicht vorfand. Nachdem ich die Silos am Wasser erreicht hatte, umgeben von heruntergekommenen Arbeitersiedlungen und mit ein paar im Schatten dösenden Menschen, die mich alle beobachteten, suchte ich mit Hilfe von google maps einen schnellen Weg hinaus. Es war eine unheimliche Gegend, keiner meiner Freunde aus Beirut ging hin und ich hatte das nach meinem Ausflug auch nicht mehr vor.

    interessante Links:

    Vertrauenswürdige NGOs Spendenorganisationen im Libanon
    DerStandard Gudrun Harrer: Analyse
    Inside Lebanon von Mideast Eye
    Beispielhafte Portraits von 2 mutigen Frauen in Beirut: Sabine: Kämpferin für das Gute und Kämpferin für Nachhaltigkeit
    Persönliche Bilder zur Lage im Libanon Herbst 2019: Revolution
    Artikel zum Libanon vor der Katastrophe von Paradiesische Hölle

  • Echte Tränen im Oman

    Echte Tränen im Oman

    Eingehüllt in kollektive Trauer

    Der Abgang eines Heroes

    Niemand hatte eine Vorstellung davon, wie es werden würde nach Ihm. Immer wieder habe ich mit meinen Omanischen FreundInnen darüber gesprochen: Was, wenn, danach? Sultan Qaboos Bin Sa’id Al Sa’id hat die Regentschaft von seinem Vater 1970 in einem Coup mit den Briten übernommen. Er hat das Land aufgebaut und 49 Jahre regiert. Er hat die Renaissance des Oman ausgerufen und Schritt für Schritt von einem wirtschaftlich und gesellschaftlich rückständigen Land zu einem prosperierenden friedvollen Partner in der Region entwickelt. Die neutrale partnerschaftliche Haltung des Oman war und ist ein wichtiger Stabilisator in einer sonst von Kriegen und Konflikten gekennzeichneten Region.

    Darüber ist in den letzten Wochen viel geschrieben worden, deswegen möchte ich hier nicht weiter ins Detail gehen, auch wenn die Entwicklungen, die der Oman durchgemacht hat, sehr beeindruckend sind. Diesen wohlgeplanten Übergang in ein neues, modernes Zeitalter haben die Omanis miterlebt und die damit verbundenen Verbesserungen in ihrem Alltag lieben gelernt. Die Rolle als Friedensstifter und Toleranzbastion unter streitenden Brüdern wurde Teil der Identität eines ganzen Volkes. In den Augen der Omanis hat Sultan Qaboos sein Leben als unverheirateter Single ohne öffentliche Eskapaden dem Land gewidmet. Sein Auftreten und seine im schönsten Arabisch formulierten Reden waren selbst für einen gebildeten Menschen außergewöhnlich. Als das National Museum 2015 eröffnet wurde, habe ich eine Stunde vor dem Wurlitzer mit den gesammelten Reden des Sultan seit 1970 verbracht. Auch wenn ich das Meisste nicht verstand, waren seine politischen Reden Poesie in meinen Ohren.

    Sultan Qaboos hat schon zu Lebzeiten einen Kultstatus errungen, der sich jeder Besucherin und jedem Besucher bald eröffnete. Natürlich ist der Oman kein Schlaraffenland, es gibt auch hier einiges zu verbessern und sein Nachfolger wird alle Hände voll zu tun haben, um den Oman vor allem wirtschaftlich abzusichern. Wenn auch mit gewählten Beratungsgremien, ist das Sultanat eine autoritär geführte Monarchie mit eingeschränkter Redefreiheit. Aber der Sultan hatte dafür gesorgt, dass niemand Not leiden muss und jede und jeder etwas vom Kuchen, der durch Öl und Gasvorräte bis vor kurzem ausreichend groß war, abbekommt. Die Menschen haben das gespürt und es war Teil ihrer Zufriedenheit, Bescheidenheit und Ergebenheit gegenüber dem unangefochtenen Landesvater.

    Der Oman hat also am 10. Jänner 2020 seinen Vater verloren. Es war keine große Überraschung, da Sultan Qaboos schon länger schwer krank war, aber innerlich hatte offenbar doch niemand damit gerechnet oder rechnen wollen. Denn nicht nur durch die komplexe Erbschaftsregelung konnte sich niemand vorstellen, wer in die Fußstapfen des großen Mannes und Helden der Beduinen treten könnte.

    40 Tage kollektive Trauer

    Ich erwachte früh an jenem Freitag, dem wichtigsten Feiertag in der Woche und Tag des Freitagsgebetes, und mein Mobiltelefon war bereits mit Nachrichten überfüllt. Es war geschehen, Sultan Qaboos in der Nacht verstorben. Nachdem alle großen Straßen gesperrt waren und alles abgesagt wurde, wußte ich nicht, was ich tun sollte und fuhr über Seitenwege an den Strand zum morgendlichen Spaziergang. Ich war im einzigen Auto in Muscat, der Hauptstadt des Landes unterwegs, ich traf niemanden, alles schien wie ausgestorben. Mein Strandspaziergang war daher unheimlich, für kurze Zeit folgte mir ein Armeefahrzeug, keine Menschenseele an den sonst mit Flanierern gefüllten Meeres Promenaden. Es war völlig unklar, was passieren würde, aber der Übergang nach dem Ableben des Monarchen war perfekt orchestriert. Die befürchteten Familienfehden fanden nicht statt, das Militär hatte alles im Griff. Vier Stunden danach wurde bereits der Nachfolger, sein Cousin Haitham ibn Tariq als neuer Sultan angelobt, um 11 Uhr fand das Begräbnis statt und danach begannen die viertägigen Trauerfeierlichkeiten.

    Für vier Tage wurde das Land völlig geschlossen, gerade manche Supermärkte hatten geöffnet, die Straßen wurden für die vielen Staatsgäste abgeriegelt. Viele ausländische Würdenträger kamen und die Medien waren überfüllt mit Nachrufen und Würdigungen, die 40 Tage dauern sollten. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Ein Land fiel in kollektive Trauer um seinen Vater, der Sicherheit und Identität gab. Alle mit denen ich sprach, vom Taxifahrer bis zur Unternehmerin, waren zu tiefst betroffen. In den Familien wurde geweint und das nicht nur am ersten Tag der Bekanntgabe der Todesnachricht. Dabei wurde die Nachricht vom neuen Sultan sehr positiv aufgenommen, ein wesentlicher Aspekt war, dass Sultan Qaboos selbst den Namen des Nachfolgers in einem Brief festgehalten hat und die Familie auf einen eigenen Vorschlag verzichtete.

    Es wurde still

    40 Tage ohne Musik, Tanz, Feierlichkeiten. Alle Veranstaltungen vom Muscat Marathon bis zur Ausstellungseröffnung oder Opernaufführung wurden abgesagt. Sogar Firmen stornierten alle Feierlichkeiten oder öffentliche Veranstaltungen. Im Fernsehen und Radio oder den Shoppingmalls spielte keine Musik, selbst aus den Autos drang keine Laut. Alle Aktivitäten wurden herunter gefahren und zwischendurch gab es immer wieder Tränen. Wenn man nicht dabei war, könnte man schnell in europäischen Zynismus verfallen, denn immerhin handelte es sich um einen politischen Führer, aber die Gefühle waren echt und ich traf niemanden, der sich auch nur ansatzweise davon distanziert hätte. Eines der Talente, die ich im Zuge meiner Interviews für die podcasts traf formulierte es später so:

    Uns wurde nach dem Ableben (von Sultan Qaboos) bewußt, wie sehr wir unseren Lebensstandard für selbstverständlich und gegeben nahmen. Durch den Verlust sind wir zusammengerückt und wollen uns noch mehr für das Land einsetzen und Verantwortung für die Prosperität von Oman übernehmen.

    Abeer Al Mujaini, Co-Founder Psychology of Youth

    Ich habe erst nach und nach realisiert, dass es sich mehr oder weniger um einen sechs wöchigen Stillstand handelte. Die ewige Dankbarkeit, dass es diese Persönlichkeit im eigenen Land gab, der achtsame Umgang miteinander und die spürbare Bescheidenheit haben mich sehr beeindruckt. In dieser Zeit dabei gewesen zu sein, wenn auch nur als Gast, habe ich als Privileg erlebt. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass es für mich, die in diese Kultur nicht hineingeboren wurde und nur teilweise verstand, was passierte schwer zu tragen war. Auch wenn ich den arabischen Grundsatz: “Geduld ist schön” als Lebensziel übernommen habe, hat meine europäische Seele unter dem absoluten Stillstand gelitten. Mein Respekt vor den Omanis ist dadurch noch gestiegen. Es fällt mir recht schwer, das Erlebte in Worte zu fassen, die hier lebenden AusländerInnen, mit denen ich in dieser Zeit Kontakt hatte, haben es ähnlich mitfühlend erlebt. Sich selbst für einen höhere Sache völlig zurück zu nehmen und in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, habe ich in dieser Intensität noch nicht erlebt. Diese Trauer hatte etwas Ehrliches und Schönes.

    An alle Talente im Land

    Letzte Woche, also nach Beendigung der 40 tägigen Trauerphase, hat sich der neue Sultan Haitham ibn Tariq in seiner ersten Rede an das Volk gewandt. Er hat angekündigt, den Kurs der Renaissance fortzusetzen und gleichzeitig, wichtige Probleme angehen zu wollen. Er richtete sich an die Jugend und die Talente im Land, für die er gemeinsam neue Perspektiven eröffnen möchte. Das gehört sicherlich zu den größten Herausforderungen im Oman. Auch wenn es in breiten Kreisen der Bevölkerung unterstützt wird, erfordert es eine enorme Wandlung in den traditionell verankerten Gepflogenheiten und Lebensgewohnheiten.

    P.s. Der Stillstand im Land hat erstens dazu geführt, dass ich viel länger blieb als geplant. Das war gut verkraftbar. Zweitens hat es bedeutet, dass ich die Gespräche mit Talenten und Menschen im Oman, die Brücken bauen, erst kurz vor meiner Abreise nach Saudi Arabien durchführen kann. Es wird also noch ein bisserl dauern, bis ich die Podcasts auf safatalents.org veröffentliche. Sultan Qaboos zu Ehren. May his soul rest in peace.

  • Begegnungen zum Nachempfinden

    Begegnungen zum Nachempfinden

    Anfangs – Sommer – Libanon

    Im August in Tarablus, Nord Libanon, herrschte ein spezielle Stimmung. Das Spannungsgeladene und die vielen Ambivalenzen kannte ich schon von meinen vorigen Besuchen. Aber es war diesmal doch irgendwie anders, intensiver, noch verstörender für eine Außenstehende. Ich empfand die Frustration der Menschen und ihres Kampfes um Anliegen, die für uns völlig selbstverständlich sind, noch stärker, teilweise aggressiver und teilweise melancholischer ausgedrückt.

    Während dieses Aufenthaltes hatte ich mein erstes Talente Gespräch mit einer jungen Frau aus Tarablus. Safa hat mir so viele Geschichten aus ihrem ereignisreichen Leben erzählt, dass ich das Gefühl hatte, ich sollte sie festhalten und in irgendeiner Form weitergeben. Also habe ich unsere Arabischen Gespräche niedergeschrieben und von ihr korrigieren lassen, damit sicher gestellt ist, dass ich auch wirklich alles verstanden habe. Denn neben der Sprache, ging es auch um kulturelle Feinheiten, die leicht missverstanden werden können.

    Safa war für mich eine außergewöhnliche junge Frau, wie man sie nicht so oft trifft. Aus sehr einfachen Verhältnissen stammend, schien sie zunächst nicht schulgeeignet und musste mehrfach Schule wechseln, bis eine Lehrerin entdeckte, dass Safa in Wirklichkeit hoch begabt war. Sie wäre längst im, damals noch mit viel Gewalt versehenen, Schulsystem versickert, hätte nicht ihre Mutter an sie geglaubt. Das hat sie an die Universität gebracht und heute ist sie nicht nur Lehrerin, sondern auch eine Aktivistin. Safa setzt sich für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Tarablus genauso ein, wie für mehr Demokratie im korrupten politischen System wie auch für junge Mädchen in der Schule und für Frauen im öffentlichen Leben.

    Begegnungen zugänglich machen

    Durch ihre Geschichten habe ich sehr viel über das gesellschaftliche Zusammenleben von Sunniten, Shiiten und Christen im Norden gelernt und wie die politische Klasse die Bevölkerung manipuliert, um ihre Ziele zu erreichen; sogar um den Preis eines Krieges, der 2015 vom Zaun gebrochen wurde. Safa’s Kraft und ihr Wille zu lernen und an Veränderungen mitzuwirken sind für mich beeindruckend. Dabei hat sie auch noch viel Humor und erzählt ihre Geschichten immer mit einem Augenzwinkern. Selbst die Geschichte, als sie mit ihrem Baby am Nebensitz ihres Autos kurz vor ihrem Haus auf einmal unter Beschuss geriet, weil Krieg ausgebrochen war, und sie diese Nacht im dunklen Haus zwischen den Fronten ausharren musste. Oder die Geschichte, als sie im Goldsouk von Tarablus aufräumte, indem sie der Administration nachwies, dass die Rechnung nicht korrekt kalkuliert wurde. Hinter die Kulissen zu schauen und die Hintergründe zu verstehen, macht ihr besonders viel Spaß. Und Safa kann daraus sogar Geschäftsmöglichkeiten entwickeln.

    Ich musste Safa erst davon überzeugen, dass sie ein Talent ist, dass sie besondere Begabungen hat, die für andere interessant sein können. Ich habe so viel von ihr gelernt, das wollte ich auch anderen eröffnen. Hier ihr englisch sprachiges talent portrait.

    Erste Ergebnisse der Safa Talent Journey

    Am Ende meines Aufenthalts im Sommer hatte ich das Gefühl, zurück kehren zu müssen und meine Safa Talent Journey im Libanon zu starten. Das war nicht geplant, nicht rational erklärbar, sondern einfach ein starkes Gefühl beim Abschied. Also kam ich drei Wochen später wieder, um meine Gespräche aufzunehmen und weiter zu führen. Ich war etwas überwältigt, wie viele interessante Menschen ich in kurzer Zeit getroffen habe; und mit vielen von ihnen wollte ich einen podcast zum Thema Brücken bauen oder Frauenleben oder ein Talente Portrait machen. Eine Woche nach meiner Ankunft starteten die Proteste und das öffentliche Leben kam zum erliegen. Seit dem hoffe ich mit den vielen Menschen, dass sich etwas zum Besseren verändern wird. Einige Gespräche haben trotz der Umstände statt gefunden, für andere war nicht die richtige Zeit und Energie. Trotzdem waren am Ende drei Interviews als Podcasts und zwei Talente Portraits fertig.

    Die Begegnungen und Gespräche mit Batoul, Sabine, Iman und Joanne waren für mich sehr erfüllend und ich war so beeindruckt, wie viel meine GesprächspartnerInnen von sich preis geben und bereit sind, mit uns zu teilen. Sie ermutigten mich, die Safa Talent Journey weiter zu führen. Aufgrund der Umstände im Libanon bin ich derzeit auf Kurzbesuch in Tunis und werde mich dann für längere Zeit im Oman und am Golf aufhalten. Dort finde ich ganz andere Lebensumstände und ich freue mich sehr auf die neuen Perspektiven und arabischen Wirklichkeiten. Dann wieder zum Nachlesen und Nachhören.

    SafaTalents und Safa East Venture

    Es gibt in diesem Blog ab jetzt im Menü einen link zu safatalents.com, dort werden regelmäßig die neuen Artikel und Podcasts veröffentlicht und du kannst sie dort auch abonnieren. East Venture wird weiterhin mein persönlicher Blog bleiben. Safatalents verfolgt auch sprachlich eine eigene Zielsetzung, mit einem Kulturverein dahinter und Projekten, die sich daraus entwickeln.

  • Paradiesische Hölle

    Paradiesische Hölle

    Libanon – Tor in den Nahen Osten

    Her mit der Revolution!

    Überall die Libanesische Fahne, nicht als Zeichen eines übermäßigen Nationalstolzes sondern als Symbol der Einheit.

    Heute ist der fünfte Tag der andauernden Proteste in Libanon. Alles steht still, außer an den vielen Plätzen im ganzen Land, auf denen Kundgebungen stattfinden. Das ist das erste Verblüffende. Die Proteste gegen die Regierung konzentrieren sich nicht nur auf Beirut, sondern sie finden überall im Land statt und zwar über Konfessionsgrenzen hinweg. Das ist einzigartig, denn bisher gab es kaum einen Libanesischen Schulterschluß in der Bevölkerung und genau dieser findet gerade statt. In den großen Städten wie auch in den Dörfern mit zentraler Lage. Als in Tyr, im Süden des Landes, Sicherheitseinheiten der regionalen politischen Macht Amal gegen die Protestierenden los gingen und sie begannen einzuschüchtern, haben sich Protestierende in anderen Teilen des Landes solidarisch aufgezeigt. Niemand scheint mehr gewillt zu sein, die Unterdrückung und Tabus, die das Land so lange gelähmt haben, zu akzeptieren.

    Es ist eine andere Generation, die nach dem Bürgerkrieg aufgewachsen ist und die religiös-politische Aufteilung der Macht im Land als schädlich und blockierend empfindet. Alle sprechen davon, dass diese Aufteilung, die sich in der Verteilung der politischen Spitzenämter nach Religionszugehörigkeit widerspiegelt, das Land in den sozialen und wirtschaftlichen Abgrund geführt hat. Leider steht Libanon derzeit gerade genau da, denn die angekündigten Austeritätsmaßnahmen haben dazu geführt, dass das Faß übergelaufen ist. Eine Steuer auf Internettelephonate (whatsapp tax), die die bereits unmäßig teure Telefonie teilweise ersetzt, war das letzte Tüpfelchen.

    Wer mag schon in einem Land leben …

    Nichts gibt es, das hier einfach funktioniert wie in anderen Ländern. Kein öffentlicher Transport, kein sauberes Trinkwasser, tägliche Elektrizitätsstilllegung im besten Fall nur für drei Stunden wie hier in Beirut, während es in anderen Landesteilen bis zu zwölf Stunden sein können, wie zum Beispiel in Tarablus, der zweitgrößten Stadt im Land. Dazu kommt noch die Müllkrise, die hier überall wahrnehmbar ist weil sie riechbar und sichtbar ist und die Umweltverschmutzung, die man am eigenen Leib spüren kann. Ich könnte die Liste ergänzen, aber es macht keinen Unterschied, alles läßt sich darauf reduzieren, dass das Leben hier und die Menschen nicht mit Respekt behandelt werden. Es fehlt an Achtsamkeit gegenüber den alltäglichen menschlichen Bedürfnissen. Diese Form der Vernachlässigung und Geringschätzung ist so spürbar, dass es für eine Außenstehende wie mich kaum erträglich ist. Deswegen bin ich nicht gerne hier.

    Wären da nicht die Menschen, die aus der Misere Kraft und eine beeindruckende Kreativität schöpfen, die es in saturierten Regionen nicht gibt. Und die berauschend schöne Landschaft, die alles beinhaltet von Meer und Küste über die fruchtbaren Täler bis zu den Bergen und Skigebieten, und das kulturelle Erbe der Phönizier und ihrer NachfolgerInnen. Eigentlich ein Paradies, genauso hat es mir die junge Kellnerin, die aus Tarablus stammt, gerade gesagt, mit dem Zusatz: “Sie haben es zerstört und uns bestohlen!” Das habe ich von vielen dieser Tage gehört und es wirkt sehr nachvollziehbar.

    Feuer am Dach

    Es wurde viel Geld in dieses Land gepumpt, alles ist versickert. Selbst als vor zwei Wochen die Waldbrände losgingen, die wie in vielen Mittelmeerländern jedes Jahr aufgrund der Trockenheit entstehen, war man diesmal auf griechische und zypriotische Hilfe angewiesen, weil die Ausrüstung nicht gewartet war, angeblich kein Geld dafür zur Verfügung gestellt wurde. Nur wo ist das Geld? Die Ausrüstung mit Helikoptern wurde gespendet. Beim Warten auf ausländische Hilfe sind riesige Waldflächen und viele Häuser abgebrannt. Die Ministerien haben sich gegenseitig den schwarzen Peter zugespielt, eine peinliche öffentliche Zurschaustellung offensichtlicher Unfähigkeit und Korruption.

    The power of the people is stronger than the people in power!

    auf einem Transparent geschrieben

    Am Wochenende bevor die Proteste losgingen, saß ich am (kontrollierten) Lagerfeuer in den Wäldern außerhalb von Beirut mit engagierten jungen Menschen zwischen 25 und 35 Jahren. 1/3 von ihnen überlegte auszuwandern, weil sie keine Perspektiven sehen und keinen Job finden trotz guter Ausbildung. Die anderen wollten weiter kämpfen, aber wußten auch nicht, wie lange sie sich das leisten können. Alle leben auf Pump oder von der Hilfe der Diaspora, um das Leben, das täglich teurer wird, zu bewältigen. Jede/r von ihnen ist zivilgesellschaftlich engagiert, um Veränderungen herbeizuführen, mit mehr oder weniger Erfolg. Als Europäerin fand ich in den Gesprächen ausreichend Stoff für Depressionen und Panikattacken, aber die Menschen hier haben Galgenhumor, und sie verstehen es zu feiern als gäbe es kein Morgen. Wie wahr, denn morgen war alles anders. Kollektiver Aufbruch!

    Systemwechsel mit starken Frauen

    It is a very unusual way to ask for your rights with songs and bad words and music and parties …

    Kommentar einer Aktivistin

    Ich gehe jeden Tag zu den Protesten in Beirut, um die Stimmung zu verfolgen und meine kleine emotionale Unterstützung zu zeigen. Es wäre nicht Libanon, wäre es nicht auch eine große Party. Alle Generationen und Geschlechter sind aktiv, die diversen politischen Gesinnungen und religiösen Hintergründe sind repräsentiert. Und seit Freitag sind es jeden Tag mehr, alle sind sich einig: “the civil war ended on Oct 17, 2019.” Die Kämpfe wurden vor fast 30 Jahren beendet, aber so fühlt es sich für die Menschen hier an. Sie möchten nicht eine neues Reformpaket an das keine/r glaubt, sondern einen Systemwechsel.

    Mir ist aufgefallen, dass besonders viele Frauen präsent sind, auch unter den AktivistInnen und SpeakerInnen. Sie tragen viel dazu bei, dass die Proteste bisher bis auf Ausnahmen, die sofort öffentlich gemacht wurden, nicht in Gewaltakten mündeten. Sie bringen ihre kleinen Kinder mit und kämpfen für die Interessen ihrer älteren Kinder, es geht um die Zukunft. Frauen haben im Libanon eine schwierige Stellung, obwohl sie in der sozialen Begegnung sehr stark wirken. Das Land liegt nur auf Platz 138 von 145 Ländern im World Economic Forum’s 2015 gender gap and labor participation assessment. Sie können in diesem Kampf nur gewinnen und viele von ihnen wollen die Chancen an vorderster Front nutzen. Sie alle rufen: ثورة Revolution!

    Road is closed for the country’s maintenance.

    auf einem Transparent bei einer Straßenblockade

    Das ist auch meine Realität. Natürlich bin ich solidarisch und freue mich, wenn die Proteste den ersehnten Wechsel und die Veränderungsimpulse bringen. Tatsache ist aber auch, dass in einem Land am wirtschaftlichen Abgrund seit Tagen alles still steht – vom öffentlichen Dienst, Schulen, Universitäten bis zu den Banken ist alles geschlossen und es ist unabsehbar, wie rasch sich das ändern wird. Ich hatte zwei Gesprächstermine, einen südlich und einen nördlich von Beirut. Keiner davon ist erreichbar aufgrund der Straßensperren. Schön langsam wächst auch die Sorge, ob alles friedlich bleiben wird, oder andere ungewollte Kräfte den gut Gemeinten das Zepter aus der Hand nehmen könnten. Aber viele meinen hier, dass es nicht mehr schlechter werden kann und die positive Energie ist berauschend. let’s hope for the best!

    Jeden Tag und die ganze Nacht wird am Märtyrerplatz mitten in Beirut protestiert und gefeiert

    Es wären nicht die Libanesinnen würden sie nicht diesen Anlass für National-Styling nutzen

    Fast 30 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs haben die Menschen für sie gesperrte Gebäude und Zonen zurück erobert. Hier das Nationalsymbol “Ei” in Beirut.

  • Zwischen den Welten

    Zwischen den Welten

    Da saßen sie zusammen und warteten bis die Sonne hinter den Bergen des Peloppones unterging. Ihr Blick vom Philopapposhügel war Richtung Meer gerichtet, westwärts, die Akropolis im Rücken. Eine recht zufällige Zusammenkunft von drei Frauen aus drei verschiedenen Ländern. Russland, Italien und Österreich, Gemeinsamkeiten und viele trennende Erfahrungen hatten diese Frauen geformt. Was sie verband, und was sie genau in diesem gemeinsamen Moment so stark spürten, war das Dazwischen. Jede auf ihre Art und Weise.

    Nach dem letzten Sonnenstrahl wandten sie sich einander zu und eine begann darüber zu sprechen. Wie es sich anfühlt, in einem Land geboren zu sein und zu viel Zeit außerhalb, in anderen Ländern verbracht zu haben, um in der geborenen Identität zurück zu kehren und bleiben zu können. Ohne Migrationszwänge, sondern frei gewählt oder als Ergebnis eines glücklichen Zufalls. Die anderen beiden nickten. Alle drei kannten das Erlebnis, egal wo man sich aufhält, nicht ganz dazu zu gehören, vor allem als Frau, sich aus den traditionellen Verhältnissen heraus begebend. Das Trennende ist immer da, ob verborgen oder zu offensichtlich, um es nicht in den Handlungen und Begegnungen berücksichtigen zu müssen. Eine ergänzte. Das von-Außen-Kommen als Qualität, die ermöglicht, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, zu öffnen und das oft eingeschränkte Blickfeld zu erweitern. Eine Unbefangenheit, die Veränderungen auf ganz anderen Ebenen ermöglicht und Neuanfänge zulässt, die sich erst aus dem Hinausgehen und Loslassen erschließen.

    The Piraeus Athene held spear and libation bowl in her hands

    Alle drei lächelten. Wäre da nicht auch das Gefühl des Alleinseins in der Welt der Anderen, das Nicht-dazu-Gehören als schmerzhafte Empfindung, die sich immer wieder bemerkbar macht und die Sehnsucht nach dem Anderen von Neuem auslöst. In dem Wissen, dass, wenn man dem nachgeht, unvermeidlich das Gleiche entstehen wird, mit der Färbung des anderen Ortes. Dort, wo man irgendwie auch hingehört und doch wieder nicht.

    Russland und Europa, Italien und Belgien, Österreich und der Nahe Osten. Bereichernde Grenzgänge, keine will die Erfahrung missen und kann auch nicht mehr loslassen, denn es hat sie verändert. Eine Art add-on, eine Identität plus, die aber auch nur mehr als solche erlebt werden möchte, sie lässt sich nicht abrubbeln oder wegwaschen. Sie gingen langsam weiter. Was ermöglicht ihnen diese Erfahrung, können sie damit etwas Gutes bewirken? Die drei umarmten sich. Sie waren sich einig, die Suche lohnt sich. Athene, Göttin der Weisheit und des Kampfes, verband sie für diesen Moment zu Schwestern zwischen den Welten.

    Mehr zu meinen Erfahrungen als westliche Frau im Nahen Osten

  • Europa und der Osten

    Europa und der Osten

    Die Entstehung Europas und die Entwicklung des Ostens

    Aus der Mythologie:

    Europa. Das war eine phönizische Prinzessin, Tochter des Königs Agenor. Sie wurde von Zeus, der sich in einen Stier verwandelte, entführt. Auf seinem Rücken brachte er sie auf eine griechische Insel. Auf Kreta legte Zeus seine Stiergestalt ab, offenbarte sich und verführte Europa. Europa gebar drei Kinder und blieb in dem fremden Erdteil, sie kehrte nicht zurück. Aufgrund einer Verheißung Aphrodites hieß der fremde Erdteil von nun an Europa. Kadmos, der sie suchende Bruder, fand stattdessen eine neue Heimat und gründete die Stadt Theben. Er brachte die Laut-Buchstabenschrift nach Griechenland, wo zur damaligen Zeit noch die Keilschrift vorherrschte. Der erste Buchstabe des Alphabets, das A, das griechische Alpha und das phönizische Aleph, hat die Form eines Stierkopfes. Die Hochkultur im Osten und das Wissen der semitischen Völker befruchteten die kulturelle Entwicklung Griechenlands. Eine Symbiose von Osten und Westen.

    Überliefert aus der Ilias von Homer und den Metamorphosen von Ovid.

    “Der patriarchale Mythos vom Sieg des Mannes über die unterlegenen Volksgruppen verbindet sich mit dem Bild von Europa und dem Stier.”

    (Anette Kuhn, 2009)

    Neben der patriarchalen mythologischen Darstellung gibt es auch eine matriarchale Überlieferungsgeschichte.

    Europa als Sinnbild einer Kulturbringerin, die aus dem Orient kommt –
    Matriarchale Auslegung von Europa auf dem Stier

    Europa Phönizisch: Abend – Westen
    Europa Griechisch: die (Frau) mit weiter Sicht

    Europa als Astarte ist die babylonisch-syrische Liebesgöttin, die von den Phöniziern in Sidon, einer Stadt im heutigen Libanon, verehrt wurde. Die Kuh symbolisiert mit ihren Hörnern die weibliche Schöpfungskraft, die Hörner gelten als deren Abbild. Nur durch die Verschmelzung mit den weiblichen Anteilen konnte der König an der kosmischen Kraft teilhaben. In der matriarchalen Erzählweise hat Telephassa, die Mutter von Europa, das ungezügelte Verhalten von Zeus durch Verweigerung der Liebe sanktioniert. Liebe kann nicht erzwungen werden …

    In der matriarchalen Erzählung „musste sich auch Zeus den Gesetzen der Natur, des allgemeinen Wohls, beugen, damit das Maß des Menschlichen nicht verloren geht.“

    Anette Kuhn: warum sitzt Europa auf dem Stier? Patriarchale Grundlagen von Europa, 2009

    Ute Frevert und Margrit Pernau analysieren in ihrem Beitrag zur Europäischen Geschichte das Erwachsenwerden und das Verhältnis zur nicht-europäischen Herkunft von Europa.

    Die Geschlechtsumwandlung der Europa …

    Bis ins 16. Jhdt wird Europa auf Bildnissen als Frau und gekrönte Herrscherin mit der Weltkugel in der Hand dargestellt. Der Machtverlust der Frau und die Dominanz der patriarchalen Vorherrschaft entstehen mit der aufkeimenden französischen Revolution. „Die Männer der Französischen Revolution und ihre Erben im 19. und 20. Jhdt waren nicht bereit, das Zusammenspiel von Gleichheit und Differenz, das in dem klassischen Bild von Europa zum Ausdruck kommt, anzuerkennen.“ (Kuhn, 2009) Dies wird in der Polarität der Geschlechterkonstruktion des 18. Jhdts deutlich: kraftvoll, gestaltend und zeugend versus schwach, ausführend und empfangend. Zwei bedeutende Ereignisse bedingen einander: Die beginnende Phase der Eroberer und Entdecker – Europa wird erwachsen – und sie erfährt eine Geschlechtsumwandlung. Europa mutiert zu einem Mann.

    “Europa unterzog sich, als sie erwachsen wurde, einer Geschlechtsumwandlung. … Nur als Mann konnte sie jene unbändige Kraft und Kreativität entfalten, die sie gegenüber ihren nicht-europäischen Kindern zur Schau stellte. Nur als Mann konnte sie Macht ausüben.”

    (Frevert & Pernau, Europa ist eine Frau, 2009)

    Das männliche Europa definiert seine Identität aus der Differenz zu Frauen und den unterdrückten Völkern, den Orientalen

    Erst als Mann kann Europa die Macht ausüben, die es ihr ermöglicht, Frauen und unreife Kinder (Länder im Süden und Osten) zu unterwerfen. Edward Said (Orientalism, London 1978) hat uns vor Augen geführt, dass erst durch die Definition des anderen (die Orientalen) die eigene Identität (Europa), also durch die Differenz, entstehen kann. Und: je mehr Asien zur Frau gemacht wurde, desto mehr wurde Europa zum Mann. Dadurch werden Parallelen bei Frauen und Orientalen sichtbar: Die Dominanz der Sinne über den Verstand; der Herrscher darüber war der bürgerliche Mann Europas. Es erfolgt eine langsame Wandlung der Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder ebenso wie der Bilder vom Orient.

    “Heute wissen wir, dass dieser Bürger, dieser halbierte Mann ähnlich dem sagenhaften Stiermenschen, … , den Maßstab für das politische, für das Menschliche im Menschen verloren hat. … Europa sitzt auf dem Stier, und muss sich wie auch Zeus den Gesetzen der Natur, des allgemeinen Wohls, beugen, damit das Maß des Menschlichen nicht verloren geht”

    (Kuhn, 2009)

    Die Sehnsucht des Westens nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Herkunft

    Frevert und Pernau diskutieren in ihrem Beitrag zwei Ansätze postkolonialer Strömungen: Die Maskulinisierung der jungen Generation und die Rückbesinnung auf weibliche Stärken wie Gewaltfreiheit (Gandhi); Die Spiritualität des Orients als Kraftquelle … die Sehnsucht des Westens nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Herkunft. Beide Aspekte sind evident und als Zeitgeist hier wie dort gut beobachtbar.

    Die wesentliche Erkenntnis ist, dass Europa und der Osten nicht getrennt voneinander interpretiert werden können. Es verdeutlicht die Notwendigkeit für eine globalgeschichtliche Perspektive. Europa und der Osten ergeben ein Ganzes.

    Blogartikel: Safa kam aus dem Westen – persönliche Antwort
    Referenzen:
    • Dommermuth-Gudrich, Gerold: 50 Klassiker Mythen. Die großen Mythen der griechischen Antike, Ausgabe 2016.
    • Frevert, Ute und Pernau, Margrit: Europa ist eine Frau: jung und aus Kleinasien. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3548>.
    • Kuhn, Anette: Warum sitzt Europa auf dem Stier? Matriarchale Grundlagen von Europa. In: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NRW: Frauen verändern EUROPA verändert Frauen. 2009, http://www.hdfg.de/pdf/Europa-Handbuch-08_Kuhn.pdf
    • Said, Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978, Reprint 2003.
  • Oman Land of Peace

    Eine außergewöhnliche Tour – unterwegs mit einer Mission

    Eine Truppe von 25 Omanis (Männer aus dem Oman) möchte sich einen Traum realisieren. Sie werden von Muscat aus mit ihren Autos starten und in 26 Tagen durch den Iran und die Türkei nach Europa fahren. Die Reise endet in London, wo sie ihren Renaissance Day am 23.Juli begehen werden. Die Gruppe möchte die touristischen, historischen und kulturellen Ressourcen von Oman vorstellen. Sie haben dafür Österreich und die Schweiz ausgewählt, weil sie zu diesen Ländern eine Verbindung in ihrer friedensstiftenden Rolle sehen. Der Oman wird oft auch als die Schweiz der arabischen Welt bezeichnet, weil es in diesem großen uns relativ unbekannten Land auf der arabischen Halbinsel seit Jahren keine kriegerischen Verwicklungen gibt. Im Gegenteil, Sultan Qabus Ibn Said, ein mächtiger Mann mit politischem Gewicht in der Region und darüber hinaus, ist bekannt für seine Vermittlungsbemühungen bei internationalen Auseinandersetzungen wie zum Beispiel zwischen dem Iran und Saudi-Arabien oder dem Nachbarn Jemen. Der Oman verfolgt seit vielen Jahren eine Nichteinmischungspolitik nach Außen und im Inneren wird mit der Einschränkung einer autoritären Monarchie Toleranz gelebt. Das spürt man, sobald man omanisches Territorium betritt, selbst wenn man nur von den Vereinigten Arabischen Emiraten kommend über die Grenze fährt.

    Immer wieder Oman

    Ich bereise den Oman seit vielen Jahren. Mein Einstieg begann mit einer Wüstenwanderung in der größten arabischen Sandwüste der Ruba al Khali im Süden des Landes. Der Grund für meine zahlreichen langfristigen Aufenthalte liegt nicht nur in der Schönheit und kulturellen historischen Strahlkraft des Oman, sondern vor allem auch an seinen respektvollen Menschen und dem wertschätzenden Klima, das einem dort vielerorts begegnet. Das land of peace hat in den letzten Jahren auch auf touristischer Seite neue Wege eingeschlagen. Der Oman ist kein Massenziel für Touristen. Das Land zieht Menschen an, die in Ruhe in die Kultur eines arabischen Landes eintauchen möchten. Dabei genießt man, sich völlig frei selbst mit dem Mietwagen oder Campingbus bewegen zu können. Das Land ist groß und man erfährt kaum Einschränkungen in der Platzwahl ob mitten in den Bergen, am Meer oder in der Wüste.

    Eintauchen in die Kultur und Schönheit Omans

    Schönheit heißt auf arabisch tschamil und das Kamel heißt tschamal. Wer die Omanis und ihre Liebe zu diesen Tieren kennt, wundert sich nicht, dass die Schönheit ihren Ursprung darin findet. Kamele gibt es noch zur Genüge, denn jeder Omani möchte zumindest ein Kamel besitzen, aber beladen und geritten werden sie nicht mehr.

    Um das Land kennen zu lernen, empfiehlt es sich, im Norden zu beginnen. Maskat ist meistens der Ausgangspunkt, um die Wadis, die von den massiven Bergen zum Meer führen zu erkunden. Manche davon sind steinige Aufstiege in bergige Höhen, andere verbergen eine Oase mit Palmen und türkisblauem Wasser und enden an einem Wasserfall. Es gibt unzählige Wadis unter denen man auswählen kann und jedes hat seinen individuellen Charakter. Die Berge dahinter, vor allem der Jebel Akhdar, grüner Berg und der Jebel Shams, der Sonnenberg sind mächtig und an ihren Abhängen thronen Burgen mit historischem Hintergrund. Sie ermöglichen bezaubernde Ausblicke und Wanderrouten führen zu kleinen Dörfern mit ihren Rosenterrassen. Sie blühen im April und ihre Essenzen werden für das berühmte Rosenwasser und die Parfums destilliert. Nahe bei Maskat kann man die noble Parfumfabrik Al Amouage besichtigen. Besonders im Sommer, wenn es in den Tälern unerträglich heiß wird, packen die Omanis die Familie und fahren in die angenehme Kühle der Berge. Dort sieht man sie dann zahlreich picknicken und die Landschaft bewundern. Zu Fuß oder am Fahrrad unterwegs sind nur TouristInnen. In den Bergen liegt die alte ehemalige Hauptstadt des Oman. Nizwa war lange Zeit das Widerstandsnest der Berg-Sippen, die sich nicht in ein Groß-Oman einfügen wollten. Davon zeugen heute noch die Burg und die Anlage der Stadt. Sie hat sich ihr traditionellen Charakter bewahrt und an den Ausläufern der Berge rund herum finden sich noch verlassene, im alten Stil erbaute Dörfer.

    Den Sternen nah in der Wüste

    Richtung Vereinigte Arabische Emirate findet man in den Bergen interessante archäologische Funde wie zum Beispiel Bienenkorbgräber, die aus der Bronzezeit herrühren. In Richtung Osten hingegen stößt man an die kleinere omanische Wüste, die Wahiba. Wenn man keine große Expedition vorhat, kann man dort in den Wüstencamps erste Wüstenerfahrungen sammeln. Man taucht in die Leere und Stille einer anderen Welt ein und erlebt umwerfende Sonnenauf- und -untergänge. Auf einer Düne sitzend und in die Weite hineinschauend, bekommt eine Vorstellung davon, wie der Oman und seine Menschen zu ihrer Ruhe als land of peace gefunden haben.

  • Crowdfunding für eastwest4us erfolgreich

    Crowdfunding für eastwest4us erfolgreich

    Crowdfunding für eastwest4us

    Unsere Crowdfunding Kampagne lief bis 30.Juni. Insgesamt 33 Unterstützer*innen haben es ermöglicht: Wir haben €6300.- gesammelt, um eine Internet Plattform aufzubauen und vielversprechende Projekte zu entwickeln, die Ost und West verbinden sollen. Vielen Dank!

    Einladung an Pioniere/innen!

    Seit einiger Zeit teile ich mit Begeisterung meine Erfahrungen zwischen Europa und dem Nahen Osten auf diesen Seiten. Im Vordergrund stehen immer meine persönlichen Erlebnisse, da ich durch diese unverfälschte Eindrücke wiedergeben kann. Vor allem in heiklen Bereichen, und die gibt es in politischer, religiöser und gesellschaftlicher Hinsicht zahlreich, das zeigen die emotionalen Medien-Berichte und öffentlichen Darstellungen auf allen Seiten. Das soll auch weiterhin so und in unverfälschter Weise geschehen, solange ich euer Interesse spüre. merci!

    Jetzt möchte ich aber einen Schritt weiter gehen, da das Thema der Spaltung immer drängender wird. Dabei sind Ost und West inzwischen als Metapher zu sehen, da selbst innerhalb von Regionen und sogar Ländern Trennlinien gezogen werden. Das gilt für Europa wie für den Nahen Osten, wiewohl mit ungleichen Mitteln und Konsequenzen. Für mich sind Ost und West keine Gegensätze, sie gehören zusammen. Aus diesem Grund habe ich ein ambitioniertes Projekt gestartet.

    eastwest4us

    soll eine Internetplattform werden, die möglichst viele Gegensätze in sich vereint, ohne dabei die achtsame Balance zu verlieren. Eine Plattform für persönliche Geschichten von Menschen in Europa und dem Nahen Osten, die ihre interkulturellen Erfahrungen unverfälscht teilen und anderen zur Verfügung stellen. Ich möchte aber noch einen Schritt tiefer gehen und Projekte lancieren, die die Kraft beinhalten, Brücken zu schlagen. Manche davon werde ich selbst initiieren, noch viel mehr sollen aber auf eastwest4us den geeigneten Raum für Kooperation finden. Die Ideen reichen von nachhaltigen Reisen und Tourismus über Kunst und Kulturprojekte bis hin zu wirtschaftlichen Kooperationen und gemeinsamem Lernen. Um diese Brücken zu schlagen, wird eastwest4us in englischer und zukünftig hoffentlich auch in arabischer Sprache veröffentlichen, vorerst auch auf deutsch.

    Hier findest du alle Informationen, die es derzeit gibt eastwest4us.com
    Hier findest du den link, über den du einen Info Newsletter über das Projekt und seine Fortschritte erhältst.