Category: Safa

  • Mein Jetzt Viertel

    Mein Jetzt Viertel

    Lokalisierung – über die Grenzen meines Viertels

    Mein Viertel macht wahrscheinlich nicht einmal ein Achtel meines Bezirks aus, ist aber größer als mein Grätzl. Es finden sich die unterschiedlichsten, die Phantasie anregenden Namen wie zum Beispiel das Fasanviertel, das Rochusviertel oder das Weißgerberviertel und viele mehr, die von der Innenstadt bis nach Simmering reichen. Die vielen Viertel in diesem großen Bezirk sehen sehr unterschiedlich aus und spannen einen politischen und gesellschaftlichen Bogen von der gehobenen Klasse in den Botschaftsvierteln bis zu den Arbeitervierteln auf. Mein Viertel hat keinen Namen, weil ich die Grenzen abgesteckt habe. Es enthält die wichtigsten Stationen für meinen Alltag und mein Wohlfühlen. Es ist nur für mich entstanden und so zu meinem Viertel geworden.

    Ich mag mein Viertel, weil es ein wenig abgelegen ist und nicht eindeutig irgendwo dazu gehört. Zwischen dem vielbefahrenen Donaukanal bis zur Landstraße und noch weiter bis zur Ungargasse. Unweit vom Hundertwasserhaus, das derzeit, erstmals seit ich hierhergezogen bin, nicht von Tourist*innen und Photograph*innen belagert wird. Ich mag besonders gerne die große Kirche mit dem Platz davor und die Verlängerung durch das Viadukt zum Radetzkyplatz. Dieser Bereich hat etwas Heimeliges, er lädt zum Verweilen ein; auf einer der Bänke vor der Kirche beim Brunnen oder in einem der Cafes. Menschen, die hierherkommen, kommen gezielt. Es gibt kaum Durchzugsverkehr und viele Wiener*innen sind noch nie in diesem Eck gelandet. Sonst müssen sich Menschen verirren, um den Weg hierherzufinden.

    Mit dem Donaukanal, an dessen Ufer man entlang spazieren kann, ist das Wasser in Wien in mein Leben getreten. Ich liebe es, flußabwärts zu gehen und mitzuschwimmen ohne einzutauchen. So beginne ich auch zu fließen und lasse mich treiben. Das Viertel erscheint dann auf einmal grenzenlos, es erstreckt sich nach Niederösterreich, Bratislava und den Balkan bis zum Schwarzen Meer. Erst außerhalb meines Viertels mündet der Kanal in den Donaustrom und erhält durch die Vereinigung den Hauch der großen Welt. Ganz im Gegensatz zu meinem Viertel, das einen lokalen Charakter hat, sobald man dem Zentrum Wien Mitte den Rücken kehrt.

    Was blieb – historische Spuren und Treffer mitten ins Herz

    Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, hätten nicht sowohl Mozart W.A. als auch Beethoven L.v. zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Schaffens auch im dritten Bezirk residiert. Letzterer erst 18 Jahre nach Ersterem, sie sind sich also in meinem Viertel nie begegnet. Für beide war der Aufenthalt im dritten Bezirk eine Durchgangsstation in ihrem abwechslungsreichen Künstlerleben, nur Mozart kehrte nach seinem Tod zurück und weilt nun auf ewig in St. Marx.

    Anders hingegen bei Ingeborg Bachmann. Zu der Zeit, als ich begann, Ingeborg Bachmann’s Bücher zu lesen, kannte ich Wien kaum geschweige denn mein Viertel. Damals las ich von ihrer Wohnung in der Ungargasse, der Straßenbahn, mit der sie nach Hause fuhr und ihren Spaziergängen im Viertel. Meine inneren Bilder von dieser Gegend entstammten also vorwiegend einem Prosawerk einer berühmten und von mir verehrten Autorin. In meinem Kopf waren sowohl das Haus als auch die gesamte Ungargasse grau und wenig reizvoll. Auf eine unbeschreibliche Weise geheimnisvoll, verlor ich mich in ihrem Ungargassenland. In der gleichen Straße also, in der Beethoven seine 9. Sinfonie vollendete, verortete Ingeborg Bachmann ihren Roman, in dem sie Ivan, Malina und die Ich-Erzählerin ansiedelte. Da, wo sich in monarchischen Zeiten die Gast- und Raststätten für die Reisenden aus Ungarn niederließen, verbrachte eine junge Frau aus Klagenfurt die Nachkriegsjahre und brannte ihre Erinnerungen später in ihre Werke ein. Als ich das erste Mal, nachdem ich schon lange in Wien gewohnt hatte, einen Ausflug in die Ungargasse unternahm, wähnte ich mich also gedanklich auf den Spuren großer Menschen. Damals, in den 1990er Jahren, fand ich weder Ungarn noch eine Vielzahl an Gaststätten, die an die Reisenden erinnern könnten, aber ich fand das Grau und es fühlte sich an, als wandle ich in den billigen Schuhen einer jungen Frau der Nachkriegszeit und ich zog meinen Mantel noch enger, so wie die Ich-Erzählerin in Malina.

    Nur wenige Jahre später, nämlich 1995, saß ich weit weg in Nordengland in einem großen Kinosaal und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Das zweite Mal innerhalb eines Jahres verspürte ich so etwas wie Heimweh, als ich Celine und Jesse über die schmale Brücke den Donaukanal in den dritten Bezirk queren sah. Natürlich „before sunrise“, denn danach waren sie vereint und mussten sich doch trennen. Das geschah zuvor erst einmal als ich, um meinen Mitbewohner zu ärgern, nach 8 Stunden Cricketmatch im Fernsehen auf irgendeinen Kanal umschaltete, und plötzlich Rex seine unbarmherzig treuherzigen Augen auf mich richtete, während sein Kommissar kluge Sprüche mit britischem Akzent von sich gab. Das war ein einmaliger Treffer mitten ins Herz einer begeisterten Auslandsstudentin. Celine und Jesse hingegen begleitete ich über all die Jahre durch all ihre Episoden, obwohl sie meinem Viertel inzwischen Paris und eine griechische Insel vorzogen. Es bleibt abzuwarten, ob Richard Linklater die beiden nach Jahren der Irrungen wieder nach Wien und in mein Viertel führt. So wie Kath Bloom in ihrem wunderschönen Titelsong “Come here” singt: “ … it‘s gonna be allright this time”. Eines Tages, wir werden sehen. Sie müssen ja nicht gleich hier begraben werden, auch wenn (die Musikgruppe) Wanda singend prophezeien: „sterben wirst du leider in Wien“ und es sich neben Mozart sicher gut bettet.

    Aber jetzt – mein Viertel ist mein Jetzt

    Ich bin erst vor fünf Jahren hierhergezogen und verband damals keine persönlichen Erinnerungen mit diesem Teil der Stadt. Nichts Aufregendes findet sich hier, sondern urbane Normalität. Das ist einer der Gründe, warum ich mein Jetzt-Viertel liebe. Es ist down-to-earth und lebensnah wienerisch durchmischt. Die Heterogenität der Wiener Bevölkerung findet sich wieder und ich weiß an jeder Ecke, dass ich in Wien bin. Mein Viertel ist mein Jetzt, denn es bildet nur die letzten fünf Jahre meines Lebens ab und markiert einen Neuanfang in meinem Leben. Es ist noch mehr „jetzt“, da ich die letzten fünf Jahre sehr wenig Zeit in diesem Land, dieser Stadt, meinem Viertel verbracht habe. Unabhängig davon, wie kurz oder lang, weit weg oder doch sehr nah ich war, ich kam immer gerne zurück. Es gibt für mich nicht wirklich einen Ort der Heimat als physische Repräsentanz mit genauen Koordinaten. Ich finde Heimat an vielen Plätzen, die Wärme ausstrahlen und an denen ich Verbindungen herstellen kann.

    Verbindungen zu den Menschen, die ich dort antreffe, Verbindung zu der Natur, die mich umgibt, und vor allem Verbindung zu mir selbst. Mein Viertel ist einer dieser Plätze. Wo auch immer ich gerade bin, denke ich mit einem wohligen Gefühl an die Straßen, den Platz vor der Kirche, an dessen Ecke das Haus und hoch oben meine Wohnung. Ein Gefühl der Sicherheit und Wärme durchströmt mich, hier kann ich ruhen. Ein Ort, um Kraft zu tanken und dann wieder loszuziehen in die weite weitere Welt.

    Mein Viertel ist mein Jetzt, denn noch nie zuvor habe ich so viel Zeit hier verbracht. Aufgrund von Covid-19 musste ich meine Reise abbrechen und früher als geplant zurückkehren. Das unfreiwillige Element hat mich die ersten Tage erstmals nicht einfügen lassen. Ein lock-down Empfang ist kein Willkommen und erschwert das Ankommen. Das Eingesperrtsein in meine Wohnung und mein Viertel hat unserer Beziehung zunächst nicht gutgetan. Zwang ist kein guter Mediator. Bald hat sich bei mir aber das Gefühl der Sicherheit eingestellt. Mein Viertel hat mich nach ein paar Tagen der Orientierungslosigkeit wie eine Wabe umgeben. Ich habe mich wochenlang nur in der Schutzhülle meines Viertels aufgehalten und tunlichst vermieden, dessen Grenzen zu überschreiten. Dabei habe ich es neu für mich entdeckt.

    Ich habe einen neuen Blick entwickelt, der Details aufnimmt, die ich zuvor nicht wahrgenommen habe. Seien es Gassen, in denen ich zuvor nie gegangen bin, architektonische Details an Häusern oder Bäume und Pflanzen, die mir zuvor nie aufgefallen waren. Besonders erfreut haben mich Klänge und Geräusche, die in der allgemeinen Stille auf einmal hörbar wurden. Es waren vorwiegend Vogelgeräusche unterschiedlichster Natur, denen ich nachgehört habe und die so schön waren, dass ich mich bemühte, sie zu differenzieren. Auch die Luft schien anders und klarer und ich nahm erstmals bewusst den Geruch meines Viertels wahr. Diese neuen Intensitäten und das Erfahren mit allen meinen Sinnen haben die Beziehung zu meinem Viertel gestärkt und auf eine neue Ebene gehoben. Ich habe erfahren, dass ich hier sicher bin. Gut aufgehoben. Das bleibt.

    Salam Kalam und Salam Orient

    Ich habe diesen Text im Rahmen der Schreibwerkstatt Salam Kalam verfaßt. Für unsere Arbeiten haben wir Inspirationen von SchriftstellerInnen der Seidenstraße aufgenommen; unter anderen auch von Rafik Shami’s Text über sein Viertel in Damaskus aus “Eine Hand voller Sterne”. Das Salam Orient Festival gibt uns nach einem intensiven Sommer Kreativen Schreibens unter der Leitung von Helga Neumayer nun die Möglichkeit, Auszüge unserer Texte im Rahmen von zwei Lesungen vorzustellen.

    Die zweite Lesung des Salam Orient Festivals findet am 13.10.2020 mit den AutorInnen Hamed Abboud, Sarita Jenamani, Aftab Hussein, Traude Pillai und den TeilnehmerInnen des Schreibzirkels statt. Live Musik gibt es von Sarvin Hazin (Kamanche) & friends.

    Die HerausgeberInnen Sarita Jenamani und Dr Aftab Husain haben Texte unseres Schreibzirkels in ihrem digitalen Magazin Words and Worlds veröffentlicht. Words and Worlds ist eine bilinguale Zeitschrift für MigrantInnenliteratur. Salam Kalam ist darin eine kleine Sonderausgabe.

  • Begegnungen zum Nachempfinden

    Begegnungen zum Nachempfinden

    Anfangs – Sommer – Libanon

    Im August in Tarablus, Nord Libanon, herrschte ein spezielle Stimmung. Das Spannungsgeladene und die vielen Ambivalenzen kannte ich schon von meinen vorigen Besuchen. Aber es war diesmal doch irgendwie anders, intensiver, noch verstörender für eine Außenstehende. Ich empfand die Frustration der Menschen und ihres Kampfes um Anliegen, die für uns völlig selbstverständlich sind, noch stärker, teilweise aggressiver und teilweise melancholischer ausgedrückt.

    Während dieses Aufenthaltes hatte ich mein erstes Talente Gespräch mit einer jungen Frau aus Tarablus. Safa hat mir so viele Geschichten aus ihrem ereignisreichen Leben erzählt, dass ich das Gefühl hatte, ich sollte sie festhalten und in irgendeiner Form weitergeben. Also habe ich unsere Arabischen Gespräche niedergeschrieben und von ihr korrigieren lassen, damit sicher gestellt ist, dass ich auch wirklich alles verstanden habe. Denn neben der Sprache, ging es auch um kulturelle Feinheiten, die leicht missverstanden werden können.

    Safa war für mich eine außergewöhnliche junge Frau, wie man sie nicht so oft trifft. Aus sehr einfachen Verhältnissen stammend, schien sie zunächst nicht schulgeeignet und musste mehrfach Schule wechseln, bis eine Lehrerin entdeckte, dass Safa in Wirklichkeit hoch begabt war. Sie wäre längst im, damals noch mit viel Gewalt versehenen, Schulsystem versickert, hätte nicht ihre Mutter an sie geglaubt. Das hat sie an die Universität gebracht und heute ist sie nicht nur Lehrerin, sondern auch eine Aktivistin. Safa setzt sich für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Tarablus genauso ein, wie für mehr Demokratie im korrupten politischen System wie auch für junge Mädchen in der Schule und für Frauen im öffentlichen Leben.

    Begegnungen zugänglich machen

    Durch ihre Geschichten habe ich sehr viel über das gesellschaftliche Zusammenleben von Sunniten, Shiiten und Christen im Norden gelernt und wie die politische Klasse die Bevölkerung manipuliert, um ihre Ziele zu erreichen; sogar um den Preis eines Krieges, der 2015 vom Zaun gebrochen wurde. Safa’s Kraft und ihr Wille zu lernen und an Veränderungen mitzuwirken sind für mich beeindruckend. Dabei hat sie auch noch viel Humor und erzählt ihre Geschichten immer mit einem Augenzwinkern. Selbst die Geschichte, als sie mit ihrem Baby am Nebensitz ihres Autos kurz vor ihrem Haus auf einmal unter Beschuss geriet, weil Krieg ausgebrochen war, und sie diese Nacht im dunklen Haus zwischen den Fronten ausharren musste. Oder die Geschichte, als sie im Goldsouk von Tarablus aufräumte, indem sie der Administration nachwies, dass die Rechnung nicht korrekt kalkuliert wurde. Hinter die Kulissen zu schauen und die Hintergründe zu verstehen, macht ihr besonders viel Spaß. Und Safa kann daraus sogar Geschäftsmöglichkeiten entwickeln.

    Ich musste Safa erst davon überzeugen, dass sie ein Talent ist, dass sie besondere Begabungen hat, die für andere interessant sein können. Ich habe so viel von ihr gelernt, das wollte ich auch anderen eröffnen. Hier ihr englisch sprachiges talent portrait.

    Erste Ergebnisse der Safa Talent Journey

    Am Ende meines Aufenthalts im Sommer hatte ich das Gefühl, zurück kehren zu müssen und meine Safa Talent Journey im Libanon zu starten. Das war nicht geplant, nicht rational erklärbar, sondern einfach ein starkes Gefühl beim Abschied. Also kam ich drei Wochen später wieder, um meine Gespräche aufzunehmen und weiter zu führen. Ich war etwas überwältigt, wie viele interessante Menschen ich in kurzer Zeit getroffen habe; und mit vielen von ihnen wollte ich einen podcast zum Thema Brücken bauen oder Frauenleben oder ein Talente Portrait machen. Eine Woche nach meiner Ankunft starteten die Proteste und das öffentliche Leben kam zum erliegen. Seit dem hoffe ich mit den vielen Menschen, dass sich etwas zum Besseren verändern wird. Einige Gespräche haben trotz der Umstände statt gefunden, für andere war nicht die richtige Zeit und Energie. Trotzdem waren am Ende drei Interviews als Podcasts und zwei Talente Portraits fertig.

    Die Begegnungen und Gespräche mit Batoul, Sabine, Iman und Joanne waren für mich sehr erfüllend und ich war so beeindruckt, wie viel meine GesprächspartnerInnen von sich preis geben und bereit sind, mit uns zu teilen. Sie ermutigten mich, die Safa Talent Journey weiter zu führen. Aufgrund der Umstände im Libanon bin ich derzeit auf Kurzbesuch in Tunis und werde mich dann für längere Zeit im Oman und am Golf aufhalten. Dort finde ich ganz andere Lebensumstände und ich freue mich sehr auf die neuen Perspektiven und arabischen Wirklichkeiten. Dann wieder zum Nachlesen und Nachhören.

    SafaTalents und Safa East Venture

    Es gibt in diesem Blog ab jetzt im Menü einen link zu safatalents.com, dort werden regelmäßig die neuen Artikel und Podcasts veröffentlicht und du kannst sie dort auch abonnieren. East Venture wird weiterhin mein persönlicher Blog bleiben. Safatalents verfolgt auch sprachlich eine eigene Zielsetzung, mit einem Kulturverein dahinter und Projekten, die sich daraus entwickeln.

  • Zwischen den Welten

    Zwischen den Welten

    Da saßen sie zusammen und warteten bis die Sonne hinter den Bergen des Peloppones unterging. Ihr Blick vom Philopapposhügel war Richtung Meer gerichtet, westwärts, die Akropolis im Rücken. Eine recht zufällige Zusammenkunft von drei Frauen aus drei verschiedenen Ländern. Russland, Italien und Österreich, Gemeinsamkeiten und viele trennende Erfahrungen hatten diese Frauen geformt. Was sie verband, und was sie genau in diesem gemeinsamen Moment so stark spürten, war das Dazwischen. Jede auf ihre Art und Weise.

    Nach dem letzten Sonnenstrahl wandten sie sich einander zu und eine begann darüber zu sprechen. Wie es sich anfühlt, in einem Land geboren zu sein und zu viel Zeit außerhalb, in anderen Ländern verbracht zu haben, um in der geborenen Identität zurück zu kehren und bleiben zu können. Ohne Migrationszwänge, sondern frei gewählt oder als Ergebnis eines glücklichen Zufalls. Die anderen beiden nickten. Alle drei kannten das Erlebnis, egal wo man sich aufhält, nicht ganz dazu zu gehören, vor allem als Frau, sich aus den traditionellen Verhältnissen heraus begebend. Das Trennende ist immer da, ob verborgen oder zu offensichtlich, um es nicht in den Handlungen und Begegnungen berücksichtigen zu müssen. Eine ergänzte. Das von-Außen-Kommen als Qualität, die ermöglicht, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, zu öffnen und das oft eingeschränkte Blickfeld zu erweitern. Eine Unbefangenheit, die Veränderungen auf ganz anderen Ebenen ermöglicht und Neuanfänge zulässt, die sich erst aus dem Hinausgehen und Loslassen erschließen.

    The Piraeus Athene held spear and libation bowl in her hands

    Alle drei lächelten. Wäre da nicht auch das Gefühl des Alleinseins in der Welt der Anderen, das Nicht-dazu-Gehören als schmerzhafte Empfindung, die sich immer wieder bemerkbar macht und die Sehnsucht nach dem Anderen von Neuem auslöst. In dem Wissen, dass, wenn man dem nachgeht, unvermeidlich das Gleiche entstehen wird, mit der Färbung des anderen Ortes. Dort, wo man irgendwie auch hingehört und doch wieder nicht.

    Russland und Europa, Italien und Belgien, Österreich und der Nahe Osten. Bereichernde Grenzgänge, keine will die Erfahrung missen und kann auch nicht mehr loslassen, denn es hat sie verändert. Eine Art add-on, eine Identität plus, die aber auch nur mehr als solche erlebt werden möchte, sie lässt sich nicht abrubbeln oder wegwaschen. Sie gingen langsam weiter. Was ermöglicht ihnen diese Erfahrung, können sie damit etwas Gutes bewirken? Die drei umarmten sich. Sie waren sich einig, die Suche lohnt sich. Athene, Göttin der Weisheit und des Kampfes, verband sie für diesen Moment zu Schwestern zwischen den Welten.

    Mehr zu meinen Erfahrungen als westliche Frau im Nahen Osten

  • Europa und der Osten

    Europa und der Osten

    Die Entstehung Europas und die Entwicklung des Ostens

    Aus der Mythologie:

    Europa. Das war eine phönizische Prinzessin, Tochter des Königs Agenor. Sie wurde von Zeus, der sich in einen Stier verwandelte, entführt. Auf seinem Rücken brachte er sie auf eine griechische Insel. Auf Kreta legte Zeus seine Stiergestalt ab, offenbarte sich und verführte Europa. Europa gebar drei Kinder und blieb in dem fremden Erdteil, sie kehrte nicht zurück. Aufgrund einer Verheißung Aphrodites hieß der fremde Erdteil von nun an Europa. Kadmos, der sie suchende Bruder, fand stattdessen eine neue Heimat und gründete die Stadt Theben. Er brachte die Laut-Buchstabenschrift nach Griechenland, wo zur damaligen Zeit noch die Keilschrift vorherrschte. Der erste Buchstabe des Alphabets, das A, das griechische Alpha und das phönizische Aleph, hat die Form eines Stierkopfes. Die Hochkultur im Osten und das Wissen der semitischen Völker befruchteten die kulturelle Entwicklung Griechenlands. Eine Symbiose von Osten und Westen.

    Überliefert aus der Ilias von Homer und den Metamorphosen von Ovid.

    “Der patriarchale Mythos vom Sieg des Mannes über die unterlegenen Volksgruppen verbindet sich mit dem Bild von Europa und dem Stier.”

    (Anette Kuhn, 2009)

    Neben der patriarchalen mythologischen Darstellung gibt es auch eine matriarchale Überlieferungsgeschichte.

    Europa als Sinnbild einer Kulturbringerin, die aus dem Orient kommt –
    Matriarchale Auslegung von Europa auf dem Stier

    Europa Phönizisch: Abend – Westen
    Europa Griechisch: die (Frau) mit weiter Sicht

    Europa als Astarte ist die babylonisch-syrische Liebesgöttin, die von den Phöniziern in Sidon, einer Stadt im heutigen Libanon, verehrt wurde. Die Kuh symbolisiert mit ihren Hörnern die weibliche Schöpfungskraft, die Hörner gelten als deren Abbild. Nur durch die Verschmelzung mit den weiblichen Anteilen konnte der König an der kosmischen Kraft teilhaben. In der matriarchalen Erzählweise hat Telephassa, die Mutter von Europa, das ungezügelte Verhalten von Zeus durch Verweigerung der Liebe sanktioniert. Liebe kann nicht erzwungen werden …

    In der matriarchalen Erzählung „musste sich auch Zeus den Gesetzen der Natur, des allgemeinen Wohls, beugen, damit das Maß des Menschlichen nicht verloren geht.“

    Anette Kuhn: warum sitzt Europa auf dem Stier? Patriarchale Grundlagen von Europa, 2009

    Ute Frevert und Margrit Pernau analysieren in ihrem Beitrag zur Europäischen Geschichte das Erwachsenwerden und das Verhältnis zur nicht-europäischen Herkunft von Europa.

    Die Geschlechtsumwandlung der Europa …

    Bis ins 16. Jhdt wird Europa auf Bildnissen als Frau und gekrönte Herrscherin mit der Weltkugel in der Hand dargestellt. Der Machtverlust der Frau und die Dominanz der patriarchalen Vorherrschaft entstehen mit der aufkeimenden französischen Revolution. „Die Männer der Französischen Revolution und ihre Erben im 19. und 20. Jhdt waren nicht bereit, das Zusammenspiel von Gleichheit und Differenz, das in dem klassischen Bild von Europa zum Ausdruck kommt, anzuerkennen.“ (Kuhn, 2009) Dies wird in der Polarität der Geschlechterkonstruktion des 18. Jhdts deutlich: kraftvoll, gestaltend und zeugend versus schwach, ausführend und empfangend. Zwei bedeutende Ereignisse bedingen einander: Die beginnende Phase der Eroberer und Entdecker – Europa wird erwachsen – und sie erfährt eine Geschlechtsumwandlung. Europa mutiert zu einem Mann.

    “Europa unterzog sich, als sie erwachsen wurde, einer Geschlechtsumwandlung. … Nur als Mann konnte sie jene unbändige Kraft und Kreativität entfalten, die sie gegenüber ihren nicht-europäischen Kindern zur Schau stellte. Nur als Mann konnte sie Macht ausüben.”

    (Frevert & Pernau, Europa ist eine Frau, 2009)

    Das männliche Europa definiert seine Identität aus der Differenz zu Frauen und den unterdrückten Völkern, den Orientalen

    Erst als Mann kann Europa die Macht ausüben, die es ihr ermöglicht, Frauen und unreife Kinder (Länder im Süden und Osten) zu unterwerfen. Edward Said (Orientalism, London 1978) hat uns vor Augen geführt, dass erst durch die Definition des anderen (die Orientalen) die eigene Identität (Europa), also durch die Differenz, entstehen kann. Und: je mehr Asien zur Frau gemacht wurde, desto mehr wurde Europa zum Mann. Dadurch werden Parallelen bei Frauen und Orientalen sichtbar: Die Dominanz der Sinne über den Verstand; der Herrscher darüber war der bürgerliche Mann Europas. Es erfolgt eine langsame Wandlung der Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder ebenso wie der Bilder vom Orient.

    “Heute wissen wir, dass dieser Bürger, dieser halbierte Mann ähnlich dem sagenhaften Stiermenschen, … , den Maßstab für das politische, für das Menschliche im Menschen verloren hat. … Europa sitzt auf dem Stier, und muss sich wie auch Zeus den Gesetzen der Natur, des allgemeinen Wohls, beugen, damit das Maß des Menschlichen nicht verloren geht”

    (Kuhn, 2009)

    Die Sehnsucht des Westens nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Herkunft

    Frevert und Pernau diskutieren in ihrem Beitrag zwei Ansätze postkolonialer Strömungen: Die Maskulinisierung der jungen Generation und die Rückbesinnung auf weibliche Stärken wie Gewaltfreiheit (Gandhi); Die Spiritualität des Orients als Kraftquelle … die Sehnsucht des Westens nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Herkunft. Beide Aspekte sind evident und als Zeitgeist hier wie dort gut beobachtbar.

    Die wesentliche Erkenntnis ist, dass Europa und der Osten nicht getrennt voneinander interpretiert werden können. Es verdeutlicht die Notwendigkeit für eine globalgeschichtliche Perspektive. Europa und der Osten ergeben ein Ganzes.

    Blogartikel: Safa kam aus dem Westen – persönliche Antwort
    Referenzen:
    • Dommermuth-Gudrich, Gerold: 50 Klassiker Mythen. Die großen Mythen der griechischen Antike, Ausgabe 2016.
    • Frevert, Ute und Pernau, Margrit: Europa ist eine Frau: jung und aus Kleinasien. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3548>.
    • Kuhn, Anette: Warum sitzt Europa auf dem Stier? Matriarchale Grundlagen von Europa. In: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NRW: Frauen verändern EUROPA verändert Frauen. 2009, http://www.hdfg.de/pdf/Europa-Handbuch-08_Kuhn.pdf
    • Said, Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978, Reprint 2003.
  • Crowdfunding für eastwest4us erfolgreich

    Crowdfunding für eastwest4us erfolgreich

    Crowdfunding für eastwest4us

    Unsere Crowdfunding Kampagne lief bis 30.Juni. Insgesamt 33 Unterstützer*innen haben es ermöglicht: Wir haben €6300.- gesammelt, um eine Internet Plattform aufzubauen und vielversprechende Projekte zu entwickeln, die Ost und West verbinden sollen. Vielen Dank!

    Einladung an Pioniere/innen!

    Seit einiger Zeit teile ich mit Begeisterung meine Erfahrungen zwischen Europa und dem Nahen Osten auf diesen Seiten. Im Vordergrund stehen immer meine persönlichen Erlebnisse, da ich durch diese unverfälschte Eindrücke wiedergeben kann. Vor allem in heiklen Bereichen, und die gibt es in politischer, religiöser und gesellschaftlicher Hinsicht zahlreich, das zeigen die emotionalen Medien-Berichte und öffentlichen Darstellungen auf allen Seiten. Das soll auch weiterhin so und in unverfälschter Weise geschehen, solange ich euer Interesse spüre. merci!

    Jetzt möchte ich aber einen Schritt weiter gehen, da das Thema der Spaltung immer drängender wird. Dabei sind Ost und West inzwischen als Metapher zu sehen, da selbst innerhalb von Regionen und sogar Ländern Trennlinien gezogen werden. Das gilt für Europa wie für den Nahen Osten, wiewohl mit ungleichen Mitteln und Konsequenzen. Für mich sind Ost und West keine Gegensätze, sie gehören zusammen. Aus diesem Grund habe ich ein ambitioniertes Projekt gestartet.

    eastwest4us

    soll eine Internetplattform werden, die möglichst viele Gegensätze in sich vereint, ohne dabei die achtsame Balance zu verlieren. Eine Plattform für persönliche Geschichten von Menschen in Europa und dem Nahen Osten, die ihre interkulturellen Erfahrungen unverfälscht teilen und anderen zur Verfügung stellen. Ich möchte aber noch einen Schritt tiefer gehen und Projekte lancieren, die die Kraft beinhalten, Brücken zu schlagen. Manche davon werde ich selbst initiieren, noch viel mehr sollen aber auf eastwest4us den geeigneten Raum für Kooperation finden. Die Ideen reichen von nachhaltigen Reisen und Tourismus über Kunst und Kulturprojekte bis hin zu wirtschaftlichen Kooperationen und gemeinsamem Lernen. Um diese Brücken zu schlagen, wird eastwest4us in englischer und zukünftig hoffentlich auch in arabischer Sprache veröffentlichen, vorerst auch auf deutsch.

    Hier findest du alle Informationen, die es derzeit gibt eastwest4us.com
    Hier findest du den link, über den du einen Info Newsletter über das Projekt und seine Fortschritte erhältst.

  • Safa kam aus dem Westen – persönliche  Antwort

    Safa kam aus dem Westen – persönliche Antwort

    Dieser Beitrag ist meine nachträgliche, persönlich geprägte Antwort auf die historische Analyse der Entstehung Europas und ihrer Auswirkungen auf die Beziehungen zum Osten.

    Der Rucksack

    Als Europäerin war ich zunächst völlig überfrachtet von eigenen, übernommenen westlichen (Angst-)Vorstellungen, feministisch geprägten Grundvorbehalten, unspezifischen Erwartungen an das andere, von orientalischen Märchen und Fantasien aus der Kindheit und von biblischen Plätzen, Weihnachten und Jesusgeschichten aus dem (protestantischen) Religionsunterricht gepaart mit den (Fernseh-)Bildern von Kriegsschauplätzen im Nahen Osten, solange meine Erinnerung zurückreicht. Und das war vor dem Beginn der großen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer nach Europa, die ich von Jordanien aus und damit ganz anders erlebte.

    Europa kam aus dem Osten

    Auf Europas Geschichte und Ursprünge bin ich erst zum Ende meiner einjährigen Entdeckungsreise in arabischen Ländern aufmerksam geworden. In Beirut, wo ich im Museum auf dieses wunderschöne Mosaik aus Byblos stieß, und in Tyros, wo Europa Astarte als phönizische Ur-Göttin verehrt wird. Sie steht für Fruchtbarkeit, Sexualität und Krieg. Die göttliche Verkörperung des Morgen- und des Abendsterns. Die Geschichte Europas und ihrer Auswirkungen auf uns Europäerinnen haben für mich im Nachhinein Erkenntnisse erschlossen, die für mich während meines Aufenthaltes noch verschleiert waren.

     

    Bewegt – östlich und westlich des Mittelmeeres

    Die ganze Zeit über war ich über mich selbst verwundert, wie sehr mich manche Plätze und Begegnungen in Jordanien und Palästina emotionalisiert haben. Der unaufhörliche Drang, die arabische Kultur und Sprache besser kennen zu lernen, zu verstehen – verbunden mit einer für mich nicht erklärlichen Sehnsucht. Nirgendwo auf meinen Reisen hatte ich zuvor das Gefühl, zu meinen eigenen Wurzeln, zum eigenen Ursprung zurück gekehrt zu sein oder so etwas wie die ursprüngliche Heimat gefunden zu haben. In mir wurden so viele unbekannte Gefühle wirksam, denen ich mich hingab und von denen ich mich leiten ließ; weil ich sie rational nicht verstand und fühlte, dass sie mich in gewisser Weise meiner Selbsterkenntnis näherbringen würden. Sie haben meine Route vorgegeben durch Jordanien, nach Palästina, Israel, auf die arabische Halbinsel und zuletzt in den Libanon. Ich begriff nach und nach, dass es um viel mehr als den sprachlichen Erwerb ging. Mein Antrieb wurde mehr und mehr die Selbsterkenntnis, die sich mir in einem Ausmaß eröffnete, das weit über Reiseerfahrungen und die Konfrontation mit fremden Kulturen hinausging. Eben keine fremde Kultur, sondern eine ganz nahe, wenngleich auf einer basalen Verständnisebene.

    Als westliche Frau gewissermaßen eine Exotin habe ich für mich unbekannte Gastfreundschaft erfahren und Begegnungen mit Frauen und Männern mit ungeahnten Beziehungstiefen erlebt, gleichzeitig musste ich vereinzelt schwierige Erfahrungen machen, die mich an die Grenzen meines westlich sozialisierten Verhaltens-Repertoires heranführten. Ungeachtet dessen habe ich mich als Frau stark gefühlt, angstbefreit und geborgen – außerhalb des europäisch dominierenden Leistungs- und Bewertungswahns, den ich in jeder meiner Zellen wiederfand, von dem ich durchdrungen war. Europa ist dort, wo die Sinne der Ratio untergeordnet werden und das weibliche Element mit Vehemenz gesellschaftlich unterdrückt wird. (interessant dafür die Diskussion zur matriarchalen Geschichtserzählung)

    Spurensuche ohne Orientalismus

    „Ohne Okzident kein Orient. Und ohne Orient kein Okzident.“ Viele sensible Geister sind der Sehnsucht in den Osten gefolgt und nachgegangen. Neben Reisenden, EntdeckerInnen und WissenschafterInnen auch zahlreiche KünstlerInnen – Musiker und Schriftsteller von Goethe, Balzac bis Liszt – nachzulesen in dem unglaublich reichhaltigen Roman Kompass von Mathias Enard (2015). Er thematisiert auch die Grenzen europäischer Erkenntnisinteressen und der Orientalisierung im Sinne der kolonialistischen Betrachtung. Edward Said hat diese Perspektive als erster in der Forschung zum Postkolonialisimus wissenschaftlich begründet (Edward W. Said, Orientalism, 1978). Er stellt klar, dass die „Erfindung“ des Orients und die „Erfindung“ Europas als Seiten der gleichen Medaille darzustellen sind. Weder gibt es den „wahren Orient“ noch das „wahre Europa“. Eigen und fremd gehören zusammen. Das entspricht genau den Empfindungen, die mich vor Ort immer wieder bewegt haben. Nämlich das Gefühl, dass wir in Europa wesentliche Aspekte ausblenden und abspalten, die zu unserer Ganzheit dazu gehören. Teil davon ist auch ein verantwortungsvoller Umgang mit unserem kolonialen Erbe.

    Nachtrag zu Safa kam aus dem Westen: Sie kam aus Austria. Auster, der begriffliche germanische Ursprung bedeutet „im Osten“, gemeint war das Herrscherhaus Domus Austriae seit dem frühen Mittelalter. Safa kam also eigentlich aus dem Osten des Westens in den Osten. Je nach Perspektive ist man also immer im Osten und im Westen.

  • Wieso arabisch?

    Was hat mich angetrieben? I don’t care I love it! So viele Rechtfertigungen und gute Gründe sind notwendig, damit es für andere nachvollziehbar wird. Dabei ist es ganz einfach. Wir wählen, wovon wir uns einen Mehrwert erhoffen. Ob ergebnisorientiert oder metaphorisch. Lernen, das Unbekannte, das Alte, das Mystische, das Angefeindete und Unverstandene. Mit der Hoffnung auf Erkenntnisse für das Neue, für Wachstum, Verstehen des Bestehenden mit all seinen Unterschieden, Akzeptieren. Neues Denken bringt neues Empfinden oder neue Qualitäten desselben zum Ausdruck. Neue Welten eröffnen und sich selbst wieder als Entdecker/in fühlen, eintauchen können, mit der Naivität eines Kindes. Von ganz vorne anfangen dürfen. Für manche Bedrohung, für manche Luxus, eine zweite, dritte Chance für die eigene Ganzheit.

    Katja von einem Kalligrafen in Dubai kunstvoll auf arabisch geschrieben
    von einem Kalligraphen aus Dubai

    Annäherung über das Schöne

    Zuerst habe ich mich in die Ästhetik der Sprache verliebt. Die Kalligraphie, die Schönheit des geschriebenen Wortes, die zur Kunstform erhöht wird, und die Kombination mit dem rauen Klang, erdig und reduziert. Die Sprache an sich ist poetisch und die Poesie wirkt daher auf mich wie ihre natürliche Ausdrucksform. Das Spannendste für mich ist aber das Eindringen in eine andere Art des Denkens, die sich in der arabischen Lebenshaltung widerspiegelt.

    Eine neue Sprache eröffnet eine neue Welt

    Die arabische Sprache mit ihrer Grammatik belässt einen im Wesentlichen im Hier und Jetzt. Ohne dass es für das „Sein“ ein eigenes Wort verschwenden würde. „Es ist (einfach)“ in Bezug auf ein Objekt. Das zeitliche Geschehen spielt sich in der Gegenwart und in einer Vergangenheitsform ab, die Zukunft ist grammatikalisch möglich, aber sie wird kaum verwendet, denn wer bin ich schon, dass ich sagen kann was sein wird? Hier wird an die höhere Macht des Schicksals appelliert, diese aber auch in vollem Ausmaß akzeptiert. Inshalla! birgt gewissermaßen auch eine Demut vor dem Leben und reduziert die individuelle gestalterische Kraft des Menschen.

    Diese Haltung widerspricht unserem westlichen Machbarkeitsstreben und hat in Bezug auf unsere Ausrichtung auf Effizienz eine beeinträchtigende Wirkung. Der Planbarkeit werden auf diese Weise natürliche Grenzen gesetzt. Als gelerntes Selbstverständnis der einen, aber zum Entsetzen der anderen, der internationalen Business Community und dem wirtschaftlichen Wachstum.

    Das Beherrschen als unerreichbares Ziel, dafür die Poesie gefunden

    Einen Schatz gehoben, kostbar und in seinem Mehrwert nicht zu beziffern. Die arabische Literatur, alt und modern, ist überwältigend, reichhaltig und eröffnet mir immer wieder neue Horizonte. Noch kann ich mich ihr nur auf dem Weg der Übersetzung nähern, wenn man von bilderreichen Kinderbüchern absieht. Die kurze Erfahrung lehrt mich, meine Ziele zurückzuschrauben, aber die Ambition hoch zu halten. Anders werde ich nie ein arabisches Buch lesen oder in einen ernsthaften Dialog treten können. Womit ich eines meiner Lebensziele offengelegt habe. Wir werden sehen, Inshalla!

    Zum Hinein hören: Don’t live a half life, Gedicht von Khalil Gibran

    Beitragsbild: alte Schrifttafeln im Kalligrafie Museum in Sharjah, UAE

  • Arabisch lernen – schweischwei

    Ich bin an der University of Jordan am Language Center in das „Program for Non-Arabic-Speakers“ eingestiegen. Mein Aufnahmetest war rasch beendet, und ich landete ohne allzu viele Demütigungen bei den AnfängerInnen. Level 1 von 8 finde ich grundsätzlich beruhigend, klein anfangen entspricht meiner akademischen Selbsteinschätzung völlig – aber es sieht aus wie eine Lebensaufgabe!

    Wir haben Sonntag bis Mittwoch täglich fünf Stunden Unterricht, die restliche Zeit ist Selbststudium, und die haben wir bitter nötig, um dem Unterricht halbwegs folgen zu können. Ein etwas gewöhnungsbedürftiger Charakterzug der akademischen ArabischlehrerInnen ist ihre Ungeduld mit Lernenden, verbunden mit einer Geringschätzung, die individuell unterschiedlich stark ausgeprägt ist, aber keinen Zweifel offen läßt, dass man sich den Zugang zur Klasse der Wissenden hart verdienen muss. Ich kann mich auch des Eindrucks nicht verwehren, dass der Begriff der modernen Pädagogik relativ zur regionalen Zone verstanden werden muss. Aber ich bin ausreichend selbstmotiviert und konnte die verunsicherte Arabischlehrerin beruhigen, dass ich kein Problem mit meinem Alter habe, und sie deswegen auch keines haben muss. Lernen ist hier noch ein Konzept für Junge, und das endet früh im Leben, denn auch der Araber stirbt nicht mehr mit 30.

    Wir absolvierten bereits die ersten Examen. Nachdem meine letzte Prüfung der „open water diver“ Tauchkurs war, habe ich mich angestrengt. Ich zähle zu den guten Schülerinnen, wer hätte das gedacht? Es macht viel Spaß, aber es bringt genauso viel Verzweiflung und Zweifel an den eigenen Lernkapazitäten. Mein Ziel? Ich bin ja nicht verwegen und peile daher nicht alte arabische Poesie an, aber eine Zeitung lesen zu können oder mich an einer Konversation beteiligen zu können – irgendwann? Gestern habe ich mir ein arabisches Kinderbuch gekauft in der Hoffnung, darin bald die Bildunterschriften lesen zu können. Der Ausdruck dafür ist شوية شوية „schwei schwei“. “Langsam, langsam” oder “schön pomale” auf Wienerisch, das ist eines der grundlegenden Motti hier im Alltag.

  • Aufbruch 2015 – Aufgabe und Weichenstellung

    Story without Glory

    Wie kommt man auf die Idee, einen interessanten Job, gut bezahlt mit ansprechender Position, aufzugeben? Ist es eine Frage von Mut? Nicht für diejenigen, die eine Alternative im Kopf haben oder gelernt haben, los zu lassen. Das Neue und vor allem das Unbekannte machen Angst. Wir wollen an dem festhalten, was wir uns erarbeitet und erwirtschaftet haben, wir wissen, womit wir kalkulieren können, und wollen keinen Schritt zurückgehen. Es soll immer nach vorne, nach oben gehen. Aber Wachstum passiert nicht linear. Innehalten ist vielleicht kein Schritt nach vorne, aber die Voraussetzung dafür, dass es keinen Stillstand gibt. Manchmal hilft ein Zustand des Befreit-Seins oder des Nichts, um neue Wege zu eröffnen. Partner und Kinder werden oft vorgeschoben, um genau das nicht zu tun. Rücksichtnahme ist oft eine Ausrede, um selbst nicht aktiv werden zu müssen, so, wie wir ständig andere für unser eigenes Glück verantwortlich machen.

    Die gute Position ist als solche bewertet, weil sie mit Ansehen, Geld und Macht versehen ist. Alles, was dazu gehört, um in unserer Gesellschaft als erfolgreich zu gelten. Der Jobtitel reicht. Dazu muss man gar nichts mehr hinzufügen. Keine dummen Fragen, weil er/sie ist Unternehmer/in oder Manager/in und hat eine verantwortungsvolle Position. Wie gehen aber Manager und Unternehmerin damit um, wächst er/sie noch? Wie sieht das das Team? Man kann es nicht alleine lassen, andere nicht hängen lassen. Bin ich so einmalig, dass die anderen nicht übernehmen könnten? Festhalten engt ein, die Sicht, die Kompetenz, die Wachstumsmöglichkeiten, die noch nicht da, aber schon in Reichweite sind. Und vor allem die eigene Überhöhung, zurück zur Angst, sich neu beweisen zu müssen, sich nicht ausruhen können auf Bewährtem, bereits erobertem Terrain.

    Und dann sind wir enttäuscht, dass so viel brach liegen geblieben ist, wir unser Potenzial nicht ausschöpfen konnten. Wir immer einfach weitergelaufen sind, ohne uns umzudrehen oder kurz stehen zu bleiben, um zu entdecken, dass wir in die falsche Richtung laufen oder gar nicht mehr orientiert sind, wo wir eigentlich sind, und ob um uns herum noch andere sind, die uns dabei begleiten oder ob wir völlig alleine sind und die anderen hinter uns gelassen haben, ohne es zu bemerken. Wie in allen Beziehungen geht es auch bei der Arbeitsbeziehung um eine Verortung, die Überprüfung des eigenen Beitrags und des Vermögens, Gutes rund um uns zu stiften. Zweifel sind gesund, sie gehören dazu, sind kein alleiniges Indiz „zu lassen“. Oft muss man durch schwierige Phasen durchgehen, sie bestehen, um persönlich oder gemeinsam zu wachsen. Aber es gibt Punkte die Endpunkte darstellen. Für diese Erkenntnis braucht es nicht unbedingt Mut, aber Offenheit und das Befreit-Sein von Ängsten. Der Mut zeigt sich schon in einer Aktivität. Wir handeln, weil wir entschieden haben.

    Allein das Aufgeben ist es wert. Eine heilsame Erfahrung. Klärend und befreiend; vor allem, wenn man die Freiheit hat, den richtigen Zeitpunkt zu wählen, umsichtig die Weichen zu stellen. Dann, wenn es am schönsten ist. Das heißt nach drei Bissen Schokolade, die am Gaumen zergehen und gerade ihren feinen Geschmack entfalten, das Papier zusammenzufalten und die Schokolade zurückzulegen. Von dort, wo wir sie hergenommen haben. Mit gutem Gefühl. Eine Sache der Willenskraft, der Achtsamkeit und des Trainings. Denn wer außer uns definiert, wie viele Bissen es sein sollen?

    …Reichthum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt;
    Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communication
    sind es worauf die gebildete Welt ausgeht,
    sich zu überbieten, zu überbilden und
    dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.

    Goethe an Carl Friedrich Zelter
    6. Juni 1825

    Goethe war bekanntlich ein Bewunderer der arabischen und der persischen Kultur und er setzte sich mit dem Islam in positiver Weise auseinander. Goethe suchte die Sprache zu erlernen, wie es die Forscherin Katharina Mommsen höflich ausdrückte, und er beschäftigte sich mit Arabistik. Speziell in seinem Werk West-östlicher Diwan nimmt er dichterisch direkten Bezug. Aber auch Wilhelm Meisters Wanderjahre sind nach eigenen Angaben von Sheherazade in 1001 Nacht beeinflußt. Katharina Mommsen (Insel Verlag, Frankfurt 1988): Goethe und die arabische Welt