Da saßen sie zusammen und warteten bis die Sonne hinter den Bergen des Peloppones unterging. Ihr Blick vom Philopapposhügel war Richtung Meer gerichtet, westwärts, die Akropolis im Rücken. Eine recht zufällige Zusammenkunft von drei Frauen aus drei verschiedenen Ländern. Russland, Italien und Österreich, Gemeinsamkeiten und viele trennende Erfahrungen hatten diese Frauen geformt. Was sie verband, und was sie genau in diesem gemeinsamen Moment so stark spürten, war das Dazwischen. Jede auf ihre Art und Weise.
Nach dem letzten Sonnenstrahl wandten sie sich einander zu und eine begann darüber zu sprechen. Wie es sich anfühlt, in einem Land geboren zu sein und zu viel Zeit außerhalb, in anderen Ländern verbracht zu haben, um in der geborenen Identität zurück zu kehren und bleiben zu können. Ohne Migrationszwänge, sondern frei gewählt oder als Ergebnis eines glücklichen Zufalls. Die anderen beiden nickten. Alle drei kannten das Erlebnis, egal wo man sich aufhält, nicht ganz dazu zu gehören, vor allem als Frau, sich aus den traditionellen Verhältnissen heraus begebend. Das Trennende ist immer da, ob verborgen oder zu offensichtlich, um es nicht in den Handlungen und Begegnungen berücksichtigen zu müssen. Eine ergänzte. Das von-Außen-Kommen als Qualität, die ermöglicht, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, zu öffnen und das oft eingeschränkte Blickfeld zu erweitern. Eine Unbefangenheit, die Veränderungen auf ganz anderen Ebenen ermöglicht und Neuanfänge zulässt, die sich erst aus dem Hinausgehen und Loslassen erschließen.
The Piraeus Athene held spear and libation bowl in her hands
Alle drei lächelten. Wäre da nicht auch das Gefühl des Alleinseins in der Welt der Anderen, das Nicht-dazu-Gehören als schmerzhafte Empfindung, die sich immer wieder bemerkbar macht und die Sehnsucht nach dem Anderen von Neuem auslöst. In dem Wissen, dass, wenn man dem nachgeht, unvermeidlich das Gleiche entstehen wird, mit der Färbung des anderen Ortes. Dort, wo man irgendwie auch hingehört und doch wieder nicht.
Russland und Europa, Italien und Belgien, Österreich und der Nahe Osten. Bereichernde Grenzgänge, keine will die Erfahrung missen und kann auch nicht mehr loslassen, denn es hat sie verändert. Eine Art add-on, eine Identität plus, die aber auch nur mehr als solche erlebt werden möchte, sie lässt sich nicht abrubbeln oder wegwaschen. Sie gingen langsam weiter. Was ermöglicht ihnen diese Erfahrung, können sie damit etwas Gutes bewirken? Die drei umarmten sich. Sie waren sich einig, die Suche lohnt sich. Athene, Göttin der Weisheit und des Kampfes, verband sie für diesen Moment zu Schwestern zwischen den Welten.
Die Entstehung Europas und die Entwicklung des Ostens
Aus der Mythologie:
Europa. Das war eine phönizische Prinzessin, Tochter des Königs Agenor. Sie wurde von Zeus, der sich in einen Stier verwandelte, entführt. Auf seinem Rücken brachte er sie auf eine griechische Insel. Auf Kreta legte Zeus seine Stiergestalt ab, offenbarte sich und verführte Europa. Europa gebar drei Kinder und blieb in dem fremden Erdteil, sie kehrte nicht zurück. Aufgrund einer Verheißung Aphrodites hieß der fremde Erdteil von nun an Europa. Kadmos, der sie suchende Bruder, fand stattdessen eine neue Heimat und gründete die Stadt Theben. Er brachte die Laut-Buchstabenschrift nach Griechenland, wo zur damaligen Zeit noch die Keilschrift vorherrschte. Der erste Buchstabe des Alphabets, das A, das griechische Alpha und das phönizische Aleph, hat die Form eines Stierkopfes. Die Hochkultur im Osten und das Wissen der semitischen Völker befruchteten die kulturelle Entwicklung Griechenlands. Eine Symbiose von Osten und Westen.
Überliefert aus der Ilias von Homer und den Metamorphosen von Ovid.
“Der patriarchale Mythos vom Sieg des Mannes über die unterlegenen Volksgruppen verbindet sich mit dem Bild von Europa und dem Stier.”
(Anette Kuhn, 2009)
Neben der patriarchalen mythologischen Darstellung gibt es auch eine matriarchale Überlieferungsgeschichte.
Europa als Sinnbild einer Kulturbringerin, die aus dem Orient kommt – Matriarchale Auslegung von Europa auf dem Stier
Europa Phönizisch: Abend – Westen Europa Griechisch: die (Frau) mit weiter Sicht
Europa als Astarte ist die babylonisch-syrische Liebesgöttin, die von den Phöniziern in Sidon, einer Stadt im heutigen Libanon, verehrt wurde. Die Kuh symbolisiert mit ihren Hörnern die weibliche Schöpfungskraft, die Hörner gelten als deren Abbild. Nur durch die Verschmelzung mit den weiblichen Anteilen konnte der König an der kosmischen Kraft teilhaben. In der matriarchalen Erzählweise hat Telephassa, die Mutter von Europa, das ungezügelte Verhalten von Zeus durch Verweigerung der Liebe sanktioniert. Liebe kann nicht erzwungen werden …
In der matriarchalen Erzählung „musste sich auch Zeus den Gesetzen der Natur, des allgemeinen Wohls, beugen, damit das Maß des Menschlichen nicht verloren geht.“
Anette Kuhn: warum sitzt Europa auf dem Stier? Patriarchale Grundlagen von Europa, 2009
Ute Frevert und Margrit Pernau analysieren in ihrem Beitrag zur Europäischen Geschichte das Erwachsenwerden und das Verhältnis zur nicht-europäischen Herkunft von Europa.
Die Geschlechtsumwandlung der Europa …
Bis ins 16. Jhdt wird Europa auf Bildnissen als Frau und gekrönte Herrscherin mit der Weltkugel in der Hand dargestellt. Der Machtverlust der Frau und die Dominanz der patriarchalen Vorherrschaft entstehen mit der aufkeimenden französischen Revolution. „Die Männer der Französischen Revolution und ihre Erben im 19. und 20. Jhdt waren nicht bereit, das Zusammenspiel von Gleichheit und Differenz, das in dem klassischen Bild von Europa zum Ausdruck kommt, anzuerkennen.“ (Kuhn, 2009) Dies wird in der Polarität der Geschlechterkonstruktion des 18. Jhdts deutlich: kraftvoll, gestaltend und zeugend versus schwach, ausführend und empfangend. Zwei bedeutende Ereignisse bedingen einander: Die beginnende Phase der Eroberer und Entdecker – Europa wird erwachsen – und sie erfährt eine Geschlechtsumwandlung. Europa mutiert zu einem Mann.
“Europa unterzog sich, als sie erwachsen wurde, einer Geschlechtsumwandlung. … Nur als Mann konnte sie jene unbändige Kraft und Kreativität entfalten, die sie gegenüber ihren nicht-europäischen Kindern zur Schau stellte. Nur als Mann konnte sie Macht ausüben.”
(Frevert & Pernau, Europa ist eine Frau, 2009)
Das männliche Europa definiert seine Identität aus der Differenz zu Frauen und den unterdrückten Völkern, den Orientalen
Erst als Mann kann Europa die Macht ausüben, die es ihr ermöglicht, Frauen und unreife Kinder (Länder im Süden und Osten) zu unterwerfen. Edward Said (Orientalism, London 1978) hat uns vor Augen geführt, dass erst durch die Definition des anderen (die Orientalen) die eigene Identität (Europa), also durch die Differenz, entstehen kann. Und: je mehr Asien zur Frau gemacht wurde, desto mehr wurde Europa zum Mann. Dadurch werden Parallelen bei Frauen und Orientalen sichtbar: Die Dominanz der Sinne über den Verstand; der Herrscher darüber war der bürgerliche Mann Europas. Es erfolgt eine langsame Wandlung der Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder ebenso wie der Bilder vom Orient.
“Heute wissen wir, dass dieser Bürger, dieser halbierte Mann ähnlich dem sagenhaften Stiermenschen, … , den Maßstab für das politische, für das Menschliche im Menschen verloren hat. … Europa sitzt auf dem Stier, und muss sich wie auch Zeus den Gesetzen der Natur, des allgemeinen Wohls, beugen, damit das Maß des Menschlichen nicht verloren geht”
(Kuhn, 2009)
Die Sehnsucht des Westens nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Herkunft
Frevert und Pernau diskutieren in ihrem Beitrag zwei Ansätze postkolonialer Strömungen: Die Maskulinisierung der jungen Generation und die Rückbesinnung auf weibliche Stärken wie Gewaltfreiheit (Gandhi); Die Spiritualität des Orients als Kraftquelle … die Sehnsucht des Westens nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Herkunft. Beide Aspekte sind evident und als Zeitgeist hier wie dort gut beobachtbar.
Die wesentliche Erkenntnis ist, dass Europa und der Osten nicht getrennt voneinander interpretiert werden können. Es verdeutlicht die Notwendigkeit für eine globalgeschichtliche Perspektive. Europa und der Osten ergeben ein Ganzes.
Dommermuth-Gudrich, Gerold: 50 Klassiker Mythen. Die großen Mythen der griechischen Antike, Ausgabe 2016.
Frevert, Ute und Pernau, Margrit: Europa ist eine Frau: jung und aus Kleinasien. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3548>.
Kuhn, Anette: Warum sitzt Europa auf dem Stier? Matriarchale Grundlagen von Europa. In: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NRW: Frauen verändern EUROPA verändert Frauen. 2009, http://www.hdfg.de/pdf/Europa-Handbuch-08_Kuhn.pdf
Said, Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978, Reprint 2003.
Dieser Beitrag ist meine nachträgliche, persönlich geprägte Antwort auf die historische Analyse der Entstehung Europas und ihrer Auswirkungen auf die Beziehungen zum Osten.
Der Rucksack
Als Europäerin war ich zunächst völlig überfrachtet von eigenen, übernommenen westlichen (Angst-)Vorstellungen, feministisch geprägten Grundvorbehalten, unspezifischen Erwartungen an das andere, von orientalischen Märchen und Fantasien aus der Kindheit und von biblischen Plätzen, Weihnachten und Jesusgeschichten aus dem (protestantischen) Religionsunterricht gepaart mit den (Fernseh-)Bildern von Kriegsschauplätzen im Nahen Osten, solange meine Erinnerung zurückreicht. Und das war vor dem Beginn der großen Fluchtbewegungen über das Mittelmeer nach Europa, die ich von Jordanien aus und damit ganz anders erlebte.
Europa kam aus dem Osten
Auf Europas Geschichte und Ursprünge bin ich erst zum Ende meiner einjährigen Entdeckungsreise in arabischen Ländern aufmerksam geworden. In Beirut, wo ich im Museum auf dieses wunderschöne Mosaik aus Byblos stieß, und in Tyros, wo Europa Astarte als phönizische Ur-Göttin verehrt wird. Sie steht für Fruchtbarkeit, Sexualität und Krieg. Die göttliche Verkörperung des Morgen- und des Abendsterns. Die Geschichte Europas und ihrer Auswirkungen auf uns Europäerinnen haben für mich im Nachhinein Erkenntnisse erschlossen, die für mich während meines Aufenthaltes noch verschleiert waren.
Mosaic Europa
Bewegt – östlich und westlich des Mittelmeeres
Die ganze Zeit über war ich über mich selbst verwundert, wie sehr mich manche Plätze und Begegnungen in Jordanien und Palästina emotionalisiert haben. Der unaufhörliche Drang, die arabische Kultur und Sprache besser kennen zu lernen, zu verstehen – verbunden mit einer für mich nicht erklärlichen Sehnsucht. Nirgendwo auf meinen Reisen hatte ich zuvor das Gefühl, zu meinen eigenen Wurzeln, zum eigenen Ursprung zurück gekehrt zu sein oder so etwas wie die ursprüngliche Heimat gefunden zu haben. In mir wurden so viele unbekannte Gefühle wirksam, denen ich mich hingab und von denen ich mich leiten ließ; weil ich sie rational nicht verstand und fühlte, dass sie mich in gewisser Weise meiner Selbsterkenntnis näherbringen würden. Sie haben meine Route vorgegeben durch Jordanien, nach Palästina, Israel, auf die arabische Halbinsel und zuletzt in den Libanon. Ich begriff nach und nach, dass es um viel mehr als den sprachlichen Erwerb ging. Mein Antrieb wurde mehr und mehr die Selbsterkenntnis, die sich mir in einem Ausmaß eröffnete, das weit über Reiseerfahrungen und die Konfrontation mit fremden Kulturen hinausging. Eben keine fremde Kultur, sondern eine ganz nahe, wenngleich auf einer basalen Verständnisebene.
Als westliche Frau gewissermaßen eine Exotin habe ich für mich unbekannte Gastfreundschaft erfahren und Begegnungen mit Frauen und Männern mit ungeahnten Beziehungstiefen erlebt, gleichzeitig musste ich vereinzelt schwierige Erfahrungen machen, die mich an die Grenzen meines westlich sozialisierten Verhaltens-Repertoires heranführten. Ungeachtet dessen habe ich mich als Frau stark gefühlt, angstbefreit und geborgen – außerhalb des europäisch dominierenden Leistungs- und Bewertungswahns, den ich in jeder meiner Zellen wiederfand, von dem ich durchdrungen war. Europa ist dort, wo die Sinne der Ratio untergeordnet werden und das weibliche Element mit Vehemenz gesellschaftlich unterdrückt wird. (interessant dafür die Diskussion zur matriarchalen Geschichtserzählung)
Spurensuche ohne Orientalismus
„Ohne Okzident kein Orient. Und ohne Orient kein Okzident.“ Viele sensible Geister sind der Sehnsucht in den Osten gefolgt und nachgegangen. Neben Reisenden, EntdeckerInnen und WissenschafterInnen auch zahlreiche KünstlerInnen – Musiker und Schriftsteller von Goethe, Balzac bis Liszt – nachzulesen in dem unglaublich reichhaltigen Roman Kompass von Mathias Enard (2015). Er thematisiert auch die Grenzen europäischer Erkenntnisinteressen und der Orientalisierung im Sinne der kolonialistischen Betrachtung. Edward Said hat diese Perspektive als erster in der Forschung zum Postkolonialisimus wissenschaftlich begründet (Edward W. Said, Orientalism, 1978). Er stellt klar, dass die „Erfindung“ des Orients und die „Erfindung“ Europas als Seiten der gleichen Medaille darzustellen sind. Weder gibt es den „wahren Orient“ noch das „wahre Europa“. Eigen und fremd gehören zusammen. Das entspricht genau den Empfindungen, die mich vor Ort immer wieder bewegt haben. Nämlich das Gefühl, dass wir in Europa wesentliche Aspekte ausblenden und abspalten, die zu unserer Ganzheit dazu gehören. Teil davon ist auch ein verantwortungsvoller Umgang mit unserem kolonialen Erbe.
Nachtrag zu Safa kam aus dem Westen: Sie kam aus Austria. Auster, der begriffliche germanische Ursprung bedeutet „im Osten“, gemeint war das Herrscherhaus Domus Austriae seit dem frühen Mittelalter. Safa kam also eigentlich aus dem Osten des Westens in den Osten. Je nach Perspektive ist man also immer im Osten und im Westen.
Meine Ausgabe von Arabian Sands (Wilfred Thesiger, 1959) ist schon völlig abgegriffen. Vier Mal habe ich sie bereits gelesen, und immer wieder faszinieren mich die Beschreibungen dieses sehr ungewöhnlichen Briten. Als hochgebildeter Abgänger von Eliteschulen in England, hat er die westliche Lebensform verachtet und jede Möglichkeit gesucht, sich fernab zu bewegen. Dabei scheint ihn die Wüste auf der arabischen Halbinsel besonders bewegt zu haben. Zwei Mal hat er die Rub al-Khali zwischen 1946 und 1948 durchquert. In seinen Schilderungen geht er, neben ausführlichen Beschreibungen der Reiserouten, insbesondere auf die Lebensweise und sein Zusammenleben mit den Beduinen ein, mit denen er für seine gewagten Vorhaben eine Schicksalsgemeinschaft einging. Denn damals herrschte noch Krieg zwischen den Stämmen.
“In those empty wastes I could find the peace that comes with solitude and, among the Bedus, comradeship in a hostile world.”
Thesiger, W. (1959). Arabian Sands.
Einer von ihnen: Mubarak bin London
Dabei hat sich Wilfred Thesiger in einem Ausmaß assimiliert, das für einen Mann mit seinem Hintergrund außergewöhnlich wirkt. Wahrscheinlich wird er deshalb nach wie vor auf der gesamten arabischen Halbinsel verehrt, und nicht seine beiden Vorgänger, die für ihn gewissermaßen den Weg bereitet haben. Die Araber haben ihn als Mubarak bin London verewigt, das bedeutet so viel wie der “gesegnete Sohn Londons”.
Nachtrag: It’s a men’s world – damals konnten Männer noch Männer sein. Als seine Leserin teile ich Thesigers Liebe für seine beiden Begleiter Bin Kabina und Bin Ghabaisha uneingeschränkt. Sie sind die Helden von Arabian Sands.
Alle drei Abbildungen sind Photos von Darstellungen im Jahili Fort Museum in Al Ain, Abu Dhabi. Dort wurde ein Museum für Wilfred Thesiger alias Mubarak bin London eingerichtet.